Ich freue mich wie ein Schneekönig. Keine Ahnung, warum diese Herren Grund zur Freude haben, mein Grund zur Freude war gestern am Vormittag, die Information, dass ich am Samstagabend nicht auf der Straße schlafen muss. Ich habe ein Refugio gefunden. Früher sagte ich immer, wenn ich morgens nicht weiss, wo ich Abends schlafen werde, fühle ich mich frei. Heute fühle ich mich zwar frei, aber eben irgendwie auch ängstlich, obschon es ja nicht um heute sondern um morgen ging. Verrückt. Ist das das Alter? Oder Erfahrung? Nein, Erfahrung war eigentlich immer positiv. Jedenfalls fällt die Angst von mir ab, um sich augenblicklich in Freude zu verwandeln. Freude darüber, dass jemand am anderen Ende einer Telefonverbindung mein Bedürfnis trotz meines gebrochenen Franzenglisch versteht. Verstanden werden…
Die Kehrseite der Münze ist, dass man eigentlich nicht weg will. Ach, Mann! Man? Ich jedenfalls nicht. Als meine Familie mich verabschiedet, meine Tochter mich mit dem Tandem noch zur Arbeit shuttlet, der letzte Tag, da weiss ich… Hier kennt man mich, versteht mich. Im Prinzip gilt das auch auf der Arbeit, Kollegen, Patienten. Den letzteren, bzw. ihren zahlreichen Krankheitsgeschichten, begegnete ich immer häufiger mit Überdruss. An diesem Tag bleibt nur Dankbarkeit für die Tatsache, dass ich hier sein durfte. Während ich dies schreibe, sitze ich im Zug nach Paris und entferne mich rasend schnell von allem, was mir vertraut ist und fühle so etwas wie Abschiedsschmerz. Ob ich zum Startpunkt meiner Reise flöge, fragen mich Patienten. Und jetzt fühle ich überdeutlich, wie sehr das zu schnell wäre. Nein. Ich brauche Zeit. Schon der Eurostar ist viel zu schnell. Dass ich morgen um diese Zeit meine Füße, einen vor den anderen in die Pyrenäen setzen soll — erscheint mir wie ein ferner Traum. Sicher, ich lasse auch den Alltag, die Streitereien meiner Kinder  und das „Gejammer“ der Patienten zurück. Aber alle diese Menschen, so fühle ich, sind fühlende Wesen, wie ich selbst. Und da liegt sie vor mir. Shantidevas Essenz des buddhistischen Mitgefühls. Unsere Körper… fragile Gebilde, dem Alter unterworfen, unsere Psyche den Launen des Schicksals und der Neurochemie ausgeliefert. Wir versuchen alle irgendwie durch zu kommen und trotz aller Anstrengung muss ich mir anhören, wie die Patientin, die ihre Kinder allein erzogen hat, nachdem sie selbst als Kind aus Ostpreussen flüchtete, mit ansehen muss, wie ihre Tochter in ihren Fünfzigern vom Krebs vernichtet wird. Sorry für das Drama. Aber dafür wurde ich bezahlt, im 45 Minutentakt. Deshalb gehe ich.
Mein Telefonanbieter informiert mich gerade darüber,  dass ich nun ein Deutscher in Belgien bin. I’m an alien. I’m a little alien. I am a German man in Belgium. Ich bin nun in der Fremde angekommen und am Ende des Tages, wenn ich müde, schwach und verletzlich sein werde, werde ich mich darauf verlassen können und müssen, dass ich von Menschen, die mich nicht kennen, Schutz und Unterstützung erfahren werde. Ich werde mich auf eine Liege legen und hoffen dürfen, für einige Stunden mein Schicksal in die Hände des Herbergsvaters oder der Herbergsmutter legen zu dürfen. Mann Jeronimo. Dass du aber auch jede Nacht die Verantwortung für Dich abgeben musst. Deine Patienten kommen immerhin nur zwei mal die Woche zu Dir. Sie werden vom Gesundheitssystem geschützt so gut es geht. Während ich schlafe, schützen Polizei und Staat mich und die Versorger gucken, dass ich nicht noch Nachts an der Kurbel drehen muss, um meine Lebensmittelvorräte kühl zu halten. Natürlich spielt Geld eine Rolle, aber das ist im Gesundheitssystem nicht anders. Patienten, die ich oft dafür kritisiert habe, dass sie ihr Schicksal nicht in die eigenen Hände nähmen, vertrauen sich mir an. Jetzt gerade verstehe ich, dass sie nicht verschieden sind. Sie gleichen mir und bloß, weil sie häufiger liegen und ich stehe, sind sie nicht verschieden von mir. Jeden Abend lege ich mich irgendwo nieder, müde, schwach, ausgeliefert. Zum Teufel. Oder auch mein Gott. Das sollte doch gar keine christlich motivierte Pilgerreise werden. Der wissenschaftliche Rationalismus unserer Zeit, mag korrekte Vorhersagen und die Beherrschung unserer Welt ermöglichen, zu keinem Zeitpunkt jedoch, adressiert das Paradigma, das mein Denken zu weiten Teilen prägt, die Konditio Humana. Die menschliche Grundbedingung.
Sartre sagte, wir sind „geworfen“ in diese Existenz und sein deutscher Kollege Heideger unterstreicht die Bedeutung des Todes als Möglichkeit, nicht als letztes Ereignis eines langen Lebens, sondern als eine Möglichkeit in jedem Augenblick. Ein Fehltritt im Gebirge… Eine Australienreise später und es kostet mein Leben, oder eben das der Tochter meiner Patientin. Was die Existenzialisten eventuell nicht ganz auf dem Schirm hatten, ist die Begegnung zwischen Menschen.
Wo sich zwei in meinem Geiste treffen, da werde ich mitten unter euch sein… Jesus meinte nicht die Anwesenheit Gottes. Denn Gott ist tot. Es gab ihn nie. Wir stehen allein unter der Sonne. Bewaffnet mit dem Spielzeug Oppenheimers und Tellers, sind wir zu schrecklicher Vernichtung fähig. Aber wo immer sich zwei im Geiste Jesu versammeln, ist er anwesend. Natürlich ist er das. Denn wir sind zum Mitgefühl fähig. Wir sind fähig den anderen zu erkennen, ihm beiszustehen, dem Fremden, dem Nächsten, der alten Patientin, die über die Krankheit ihrer Tochter jammert.
Lüttich und Brüssel ziehen vorüber. Die Grundbedingung menschlicher Existenz ist Unsicherheit und Verletzlichkeit. Sie ist Verantwortlichkeit und Mitgefühl. Wo immer zwei Erkennen, dass sie in existenzieller Hinsicht gleich sind, wie der buddhistische Shantideva sagt, da wird Jesus mitten unter ihnen sein. Ich will nicht dem Universalismus das Wort reden. Religionen sind unterschiedlich. Die Conditio Humana“, die menschliche Grundbedingung ist es nicht.
Ob ich mich von Patienten, oder Arbeitskollegen sich von mir verabschieden müssen, der Verlust von Vertrautheit ist immer schmerzlich. Beim Schreiben verwandelt sich meine Angst vor der Reise in warmes Mitgefühl. Ich verliere vermeintliche Sicherheit und die gewohnte Vertrautheit. Ich werde beschenkt, mit der Begegnung mit Fremden. Sicher, sie können mich bestehlen. Wir können einander aber auch erkennen und beistehen und ein Stück Weges zusammen gehen. Menschen brauchen Vertrautheit. Die einen mehr, die andern weniger. Je nach Typ, Lebensphase und so fort.
Ich gebe zwar nicht den Löffel ab, wohl aber den Schlüssel. Meinen Türschlüssel für zu Hause kriegt meine Tochter, meinen Praxisschlüssel kriegt Frau Bergmann. Ich bin damit offiziell in die Hauslosigkeit entlassen. Das englische Wort für „Ehemann“ „Husband“ bedeutet, „Ans Haus gebunden“. Jetzt bin ich ein Wandergesell. Ein Pilger in der Fremde unter Fremden und doch Gleichen.
Der Zwischenstop bei meiner Tante in Köln ist wie immer wunderbar. Sie hat gar keine großen Bedenken bezüglich meiner Reise. Oder… Sie sagt nichts darüber. Eine junge Frau, die ich unterwegs treffe, erkennt die Jakobsmuschel und gesteht, dass sie selbst sich nicht traute, aber schon oft darüber nachgedacht habe. Wir lesen Geschichten, egal ob es Hape Kerkeling ist oder Jesus Christus gerne. Ihr Leidensweg nimmt uns einfachen Sündern die Schuld ab, den Weg selbst gehen zu müssen. Wir partizipieren gewissermaßen an ihrer Kreuzigung und Auferstehung, nehmen Trost und Hoffnung oder Inspiration mit und müssen nicht selbst dadurch. Im Grunde ist jeder, der Abenteuer- oder Liebesdramen liest, Patient. Er würde das Buch nicht lesen, wenn es ihm nichts sagte. Er gibt die Verantwortung an den Charakter des Romans ab, durchlebt all dessen Emotionen und braucht seine eigene Komfortzone nicht zu verlassen. So nimmt es nicht wunder, dass viele Leute von mir hören wollen, was ich erlebe, ohne es selbst erleben zu müssen. Jeder, der ein Abenteuer tatsächlich unternimmt, statt davon zu lesen, wird zum Helden. Und das Urbild des Helden ist im Abendland nunmal Jesus von Nazareth. Oder eben Bilbo Beutlin oder Frodo oder Bat Man. Aber ernsthaft. Wer will schon als Kind seine Eltern verlieren müssen, um sein ganzes Potential zu heben. Bat Man ist interessant, weil er an unserer Stelle leidet. Der Leidensweg Christi mag meiner Patientin Hoffnung geben und vielleicht kann sie das Kreuz des Sterbens ihrer Tochter dann besser tragen. Für die vielen, welche die Heldensaga des neuen Testaments nicht mehr verstehen, mag der Therapeut oder einfach der andere Fremde-Gleiche ein Funke der Hoffnung sein. So! Genug jetzt!
Das nächste mal überlege ich mir genau, ob ich eine Kerze im Dom zu Köln anzünde. Natürlich ist all das Placebo… Das Dumme an Placebos ist halt, dass sie wirksam sind. Sie betreffen eben nur die geistige Ebene, die schwer messbar ist. Nichts desto trotz sind sie wirksam. Und meine Behandlung wird nichts dauerhaft am Umfang der Beine meiner alten Patientin ändern, der Frust ist quasi vorprogrammiert, aber auf einer ganz anderen Ebene kann meine Behandlung wirksam sein. Denn …. Wo immer sich zwei in meinem Geiste versammeln… Bzw. begegnen. !denn wir sind existenziell gleich. Die christliche Botschaft ist wahr, auch wenn Gott tot ist, oder nie lebte. Nietzsche hat Recht und irrt doch. Denn Gott ist nicht da oben. Er findet sich in Raum Nr.8 Praxis Biele Bochumer Straße 58. Es gibt aber keine Garantie, ihn dort zu treffen. Er ist scheu, wie ein Reh. Frustration, Zeitdruck, Langeweile, Überdruss… Die Gründe für seine Abwesenheit sind zahlreich. Der Grund für seine Anwesenheit dagegen ist einfach. „Begegnung“. Echte, aufrichtige Begegnung… Oder man trifft ihn eben im Zug nach Paris, wo jemand, ich weiss nicht wie erfahren hat, dass ich nach Bayonne weiter fahre und mir eine Info über die Metro in Paris zu steckt. Woher weiss er das? Gott? Du sollst meinen Namen nicht mißbrauchen. Sprich: „Verdecke die Unsicherheit Deines Nichtwissens nicht mit mir. Wo Du nicht weisst, wo Du unsicher und verletzlich bist, da würde Gott sagen, wenn er denn wäre, da kannst Du mich treffen. Voraussetzung aber wäre, dass Du nicht vorschnell mit Erklärungen oder tröstenden Standardfloskeln bei der Hand bist. Was, wenn die Patientin vom Sterben der Tochter erzählt und ich meine Therapeutenrolle verlasse. Was, wenn ich zulasse selbst zu fühlen, wie ich verletzlich geworfen bin in dieses wunderschöne und gnadenreiche, grausame Leben…