Ich wache auf, packe, habe mich für die langsame Variante entschieden. Ein paar Verabschiedungen. Ein einfaches Frühstück und da ist meine Fahrerin. Unterwegs liefert Susanne ein paar weitere Zahlen. Aus 160 Tameranern sind über die letzten 10 Jahre, in denen ja keine dazu kommen konnten, 120 Mitarbeitende geworden. Diese bekommen bislang 200 Euro Taschengeld im Monat. Ich überschlage kurz und komme auf 200*120*12=288.0000 euro. Gut nicht alle brauchten das Taschengeld, aber von den 1.2 Mio Euro sind schonmal ein paar weg. All diese weiteren Schlüsse sind voreilige Daumenrechnungen meinerseits. Die Wirklichkeit kann deutlich davon abweichen. Man arbeite aufgrund der mitlerweile divergierenden Level an Engagement an einem Modell, in dem Menschen im innern der Zwiebel Geld bekämen, während Menschen, die zwar in Tamera leben, sich aber kaum einbringen, eine Art Miete zahlen würden. Kurz und gut, aufgrund von individualistischen Tendenzen, Alter, Krankheit und gemeinschaftsbedingtem Burn Out, bröckelt die intrazwiebuläre Schenkungsökonomie. Meine Befürchtung wäre, dass das Geldthema die Gemeinschaft eher auseinander treibt, als das Thema von Sexualität und Eifersucht. Das hat man hier im Griff. Hoffen wir das beste, denn der Ort, stelle ich mich verabschiedend fest, ist etwas sehr besonderes.
Am Bahnhof treffe ich Maria und Monica. Sie sind Anhängerinnen von Mooji. Mooji lebt mit seiner Hood in der Nähe von Tamera, ist Jamaikaner und lehrt indischen Advaita Vedanta. Sachen gibt’s. Monica verabschiedet sich. Die etwas unsortiert rührselige Maria aus Deutschland wird durch ihr religiös verstärktes Helfersyndrom leider noch eine Weile an mir kleben bleiben. Nichts ist nerviger, als ein übermotivierter, hilfloser Helfer.
Irgendwann werde ich sie los, finde mein Hostel mit dem schönen Namen „We hate f*** Tourists“ und lasse meinen Rucksack dort. Erstmal essen. Die Malzeit traditionell Portugiesisch, die Verständigung eher schwierig. Wenn ich schon nicht gucken kann, sollte ich die Sprache sprechen!
Zum Nachtisch einen Pika – Espresso – und eine Pastel de Nata. Finally! Nach 10 Tagen bin ich in Portugal angekommen. Durch Cola, und Espresso motiviert, entscheide ich trotz Fuß mir Lissabon anzutun. Die Pastéis de Nata stammen ursprünglich aus dem Kloster Mosteiro dos Jerónimos in Belém (Lissabon). Dort haben Mönche sie erfunden, um die Eiweißreste vom Wäschestärken loszuwerden (Eiweiß für Wäsche, Eigelb für den Magen – clever, was?). Und deshalb ist die erste Idee mir das größte Kloster Portugals anzugucken. Hier gäbe es diese Verführung aus Blätterteig und Vanillepudding noch originaler als original. Aber es ist spät, das Kloster weit weg und deshalb verwerfe ich den Plan. Stattdessen fällt die Wahl auf das traditionsreiche Viertel Alfama. Es hat das Erdbeben von 1755 fast unbeschadet überstanden und das Kopfsteinpflaster, die engen Gassen und der allgegenwärtige Fado ergeben auch für mich ein unvergessliches Gesamtkunstwerk…
Ich schlage mich bis zum Tejo durch und genieße im Sonnenuntergang ein Glas vinho Verde. Dieser Wein ist nicht grün, sondern „grün hinter den Ohren“. Ein junger Weisswein… Wie dem auch sei. Der Wein legt einen wunderbaren Sepiafilter über alles. Gerade soviel, dass die Umgebung etwas surrealistisch wirkt, aber nicht soviel, dass meine analytischen Fähigkeiten eingetrübt werden.
Ich muss mal kurz etwas einwerfen. Schon vor 80 Jahren spekulierte Saint-Exupéry, dass einmal Mensch und Maschine verschmelzen. Er sitzt in einem offenen Flugzeug, um bessere Sicht zu haben. Er überquert die Alpen und die Hände am Steuerknüppel werden so kalt, dass sie die Befehle seines Gehirns nicht mehr ausführen. Er hat ein motorisches Problem. Sieht aber, dass die Menschmaschineinteraktion besser werden wird, weil sie besser werden muss. Er geht sogar soweit zu glauben, dass die Grenze irgendwann verschwimmen wird. Wohl weil er mit den vor Kälte gefühllosen Händen die Grenze zwischen Hand und Knüppel nicht mehr fühlt.
Ganz ähnlich rieche und lausche ich, fühle mit den Füßen, während mein Geist, aus der Geodatenbank von Foursquare, Google Maps Anweisungen, magnetometrischen Kompassinformationen, Wikipediaeinträgen, dem passenden Fado von Spotify und dem ständig im Hintergrund laufenden Dialog mit GPT ein Gesamtbild konstruiert, das ob des Reichtums an Hintergrundinformationen eine emotionale Tiefe bekommt, die ich so vorher noch nicht erlebt habe. Es ist eine Augmented Reality auch wenn das Interface noch relativ primitiv ist. Sollten Projekte wie Neuralink einmal wirklich einen Datenaustausch zwischen zellulären und maschinellen Netzwerken ermöglichen, wäre ich der erste, der diesen sechsten oder eben fünften Sinn ausprobierte.
Ich finde die berühmte Tramm 28. Nostalgisch, mit offenen Fenstern, Holzboden und einem Menschmaschineinterface, das klappert, wann immer der Fahrer bremst oder Gas gibt. Der Heimweg gerät ob der spätabendlichen, wirklich penetranten, Hilfswütigkeit portugiesischer Wohnungsloser eher zum Spießrutenlauf mit einer Hand in der Tasche. Ich komme Heim, finde einen überaus hilfreichen Hostelier und freue mich über Dusche und Bett.
Nach 12 Kilometern auf gebrochenem Fuß habe ich ein neues Motto:
Teufel komm‘ raus und leck‘ mich am Arsch. Meiner ist der geilste!