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  • Männergesundheit im Pentarhei-Modell

    Heraklits Gedanke pánta rheî – alles fließt – bildet den Rahmen des Pentarhei-Modells: Fünf Ströme speisen ein gemeinsames Delta männlicher Vitalität und das Ziel eines guten Lebens im Allgemeinen.

    Körper – Gefäße, Hormone, Schlaf, Bewegung Beziehungen – Nähe, Vertrauen, Gelassenheit Finanzen – Sicherheit versus Stress Arbeit & Ziele – täglicher Antrieb Sinn – der innere Kompass

    Trocknet ein Zufluss aus, schrumpft das Ganze. Im Folgenden schauen wir, wie sich jeder Strom nähren lässt – mit leicht verständlicher Sprache und knappen Verweisen auf die Forschung¹-⁹.

    1 | Körper – Gefäße, Hormone, Schlaf und Bewegung

    Stickstoffmonoxid & L-Citrullin. Eine Monatskur mit der Aminosäure L-Citrullin verbesserte bei jedem zweiten Mann mit milder Störung die Erektionshärte¹. Kniebeugen & Testosteron. Mehrgelenkige Beinübungen wie Kniebeugen erzeugen akute Hormonspitzen: In einer Meta-Analyse stieg Testosteron nach intensiven Einheiten kurzfristig spürbar². Schlaf. Eine Woche mit nur fünf Stunden Schlaf senkt den Testosteronspiegel bereits um zehn bis fünfzehn Prozent³. Koffein in Maßen. Zwei bis drei Tassen Kaffee täglich gingen in einer US-Studie mit etwas selteneren Erektionsproblemen einher⁴. Letzte Tasse: mindestens sechs Stunden vor dem Schlaf. Potenz als Herzbarometer. Weil Penisgefäße kleiner sind als Herzkranzgefäße, können Erektionsprobleme ein Frühzeichen künftiger Herzerkrankungen sein⁵.

    2 | Beziehungen – Nähe, Vertrauen, Gelassenheit

    Die Harvard-Langzeitstudie zeigt: Wer mit fünfzig stabile, warme Beziehungen pflegt, ist mit achtzig deutlich gesünder als Menschen mit schwachen Bindungen⁶. Drei Pfeiler tragen dabei besonders:

    Vertrauen – ehrliches Gespräch senkt innere Anspannung. Gelassenheit – weniger Leistungsdruck reduziert Stresshormone. Erwartungsmanagement – beide Partner wissen, dass Sexualität variieren darf.

    Diese Atmosphäre kann die IELT (Intravaginal Ejaculation Latency Time) – also die Zeit zwischen Eindringen und Samenerguss – verlängern; der weltweite Median liegt bei 5,4 Minuten, schwankt jedoch stark⁹.

    3 | Finanzen – Risiko, Ruhe und Hormone

    Chronische Geldsorgen lassen das Stresshormon Kortisol steigen. Experimente zeigten, dass anhaltend hohe Kortisolspiegel Trader vorsichtiger und risikoaverser machen⁷. Umgekehrt können Testosteronspitzen in turbulenten Märkten zu waghalsigerem Verhalten führen⁸. Ein Liquiditätspuffer von drei Monatsausgaben und automatisierte Sparpläne beruhigen Konto und Hormone.

    4 | Arbeit & Ziele – Bewegung und erfüllende Projekte

    Kurze Sprints, Spaziergänge oder eine Runde Kniebeugen liefern tägliche Erfolgsschübe für Körper und Kopf. Ebenso beflügelt ein sinnvolles Projekt den inneren Antrieb: Wer abends stolz auf das Geschaffte blickt, profitiert geistig und hormonell – ganz ohne künstliche Booster.

    5 | Sinn – der innere Kompass

    Menschen mit einem klaren „Wofür“ leben länger und erholen sich schneller von Rückschlägen. Sinn wirkt wie ein stiller Rhythmus­geber: Stress klingt rascher ab, das Immunsystem arbeitet ruhiger, und die Libido behält Schwung. Ein paar Minuten Dankbarkeit oder Meditation genügen oft, um diesen Kompass zu justieren.

    Fazit

    Ein kraftvolles Liebesleben ist kein Ein-Pillen-Projekt. Es entsteht, wenn alle fünf Flüsse im Pentarhei-Modell klar fließen:

    Körper pflegen – Schlaf, Gewicht, Gefäße, moderater Kaffee. Beziehungen hegen – das beste Langzeit-Elixier. Finanzen ordnen – damit Kortisol keinen Dauerauftrag erhält. Bewegung & Projekte – tägliche Erfolgsschübe. Einen Sinn finden – der allem Richtung gibt.

    Quellenverzeichnis

    Oral L-citrulline – Verbesserung der Erektionshärte, Urology 2011  Meta-Analyse: Akutes Testosteron-Plus nach körperlicher Belastung, PubMed 2020  Eine Woche Schlafmangel senkt Testosteron, JAMA 2011  Koffeinkonsum & erektile Funktion, NHANES 2001-04  Erectile Dysfunction – Früher Marker kardialer Erkrankungen, J Clin Med 2021  Harvard Study of Adult Development – Beziehungsgüte & Gesundheit, Harvard Gazette 2017  Cortisol erhöht Risikoaversion bei Tradern, University of Cambridge 2014  Cortisol & Testosteron steigern Risikofreude, Scientific Reports 2015  Multinationale Stopuhr-Studie zur IELT, J Sex Med 2005 

  • Die letzte Etappe — Nicht mal erleben müssen wir selbst?

    Von Finisterre nach Muxía – Unterwegs zum Ende der Welt

    Aufbruch in Finisterre

    Die Dämmerung legt noch einen silbrigen Schimmer auf den Hafen von Finisterre. Möwen kreischen über den Fischerbooten, während ich meinen Rucksack schultere. Noch einmal schaue ich zurück auf die Gassen von Fisterra (galicisch für Finisterre), wo gestern Abend Pilger aus aller Welt den “Ort am Ende der Welt” feierten. Am nördlichen Ortsrand, beim steinernen Baixar-Kreuz mit Blick auf den endlosen Strand Playa Langosteira, verabschiede ich mich im Herzen von Finisterre . Von hier oben glitzert der Atlantik in der Morgenluft – ein verheißungsvoller Anblick, der mich innehalten lässt. Doch der Weg ruft, und ich folge den gelben Pfeilen stadtauswärts. An jeder Abzweigung weisen Doppel-Wegweiser sowohl zurück nach Fisterra als auch voraus nach Muxía . Ein letzter Blick auf Finisterres Häuser unter mir, dann tauche ich in die galicische Landschaft ein.

    Gleich hinter dem Ort geht es zunächst über eine schmale Asphaltstraße am Rand der Landstraße entlang . Die Straße ist ruhig um diese frühe Stunde; nur eine Bäuerin treibt ein paar Kühe über den Weg. Die Luft riecht nach Salz und feuchter Erde. Langsam steigt der Pfad an – sanfte Hügel, mit ginsterbewachsenen Hängen zur Rechten und dem Meer im Rücken. Ein leichter Küstennebel hängt in der Luft. Während ich einen Hügelkamm erreiche, bricht die Sonne durch die Wolken und taucht die Landschaft in goldenes Licht, das auf den taufrischen Wiesen glitzert. Für einen Moment bleibe ich stehen, staune über das Schauspiel aus Licht und Wolken über dem Ozean und atme tief ein . Dann gehe ich weiter, vorbei an einer kleinen weißgetünchten Kapelle mit der Aufschrift “San Roque” – das leise Murmeln eines Morgengebets dringt aus der halb geöffneten Tür, als wollte auch der Schutzheilige der Reisenden mir seinen Segen mitgeben.

    Hinter San Roque erreiche ich den Weiler San Martiño de Duio. Eine alte Steinbrücke führt über einen Bach, und daneben duckt sich die romanische Igrexa de San Martiño mit ihrem moosbewachsenen Dach ins erste Licht. Das Gotteshaus wirkt verschlafen; nur eine Katze streicht um die verwitterten Grabsteine auf dem Kirchhof. In diesem Dorf rankt sich eine Legende um eine versunkene Stadt namens Dugium – angeblich liegt sie hier irgendwo unter den Wellen verborgen, was dem Ort einen Hauch Mystik verleiht. Ich stelle mir vor, wie einst Pilger diese Geschichten austauschten, während sie an gleicher Stelle vor Jahrhunderten vorübergingen. Nach der Kirche von Duio führt der Camino abwärts über einen Pfad zwischen Steinmauern hindurch. Vogelgezwitscher erfüllt die Morgenluft, und ich höre das ferne, rhythmische Tosen der Brandung – ein Versprechen, dass der Weg mich zurück ans Meer führen wird.

    Wälder, Weiler und die wilde Küste

    Kurz hinter Duio tauche ich in einen Küstenwald ein. Eukalyptusbäume ragen schlank in den Himmel, ihre abgestreifte Rinde liegt in rostroten Fetzen am Boden. Der Pfad ist schmal und duftet nach Eukalyptus und Pinienharz. Meine Schritte knirschen auf Kies und gelegentlich matschigem Boden – es hat nachts leicht geregnet, und die Erde ist dunkel und weich. In der Ferne höre ich das immer lautere Rauschen der Wellen, obwohl ich das Meer noch nicht sehen kann. Durch das dichte Blätterdach fallen Sonnenstrahlen in tänzelnden Mustern auf den Weg, während ich gemächlich bergauf steige. Plötzlich öffnet sich der Wald zu einer kleinen Ansiedlung: Buxán, steht auf einem handgemalten Holzschild. Hier, am Eingang des Weilers, entdecke ich etwas Unerwartetes: Unter einem schmucken Vordach hat jemand einen inoffiziellen Pilgerstopp eingerichtet .

    In einem Vorgarten steht ein Tisch mit Thermoskannen, Obst und Keksen, daneben zwei gemütliche Sessel aus Bambus. Ein handgeschriebenes Schild begrüßt die Vorbeikommenden: “Bienvenidos – Donativo”. Neugierig trete ich näher. Eine freundliche Dame mittleren Alters – vermutlich die Bewohnerin des angrenzenden kleinen Hauses – kommt lächelnd heraus und bietet mir einen Kaffee an. Sogar Hafermilch hat sie parat – “die erste vegane Milch seit Wochen!” denke ich überrascht und muss an einen Kommentar im Pilgerforum zurückdenken . Zwei Hunde dösen in der Morgensonne, während eine getigerte Katze schnurrend um meine Beine streicht. Ich setze mich für einen Moment. Ruhige Musik spielt leise im Hintergrund, und im Regal an der Hauswand stehen ein paar Bücher zum Schmökern bereit. Diese kleine Oase fühlt sich an wie ein Geschenk des Himmels – eine echte “trail angel”, wie es andere Pilger treffend beschrieben haben . Dankbar trinke ich meinen Kaffee, der mit Liebe zubereitet wurde, und knabbere an einer Scheibe selbstgebackenem Kuchen. Mit der Dame wechsle ich ein paar Worte auf Spanisch; sie erzählt, dass sie den puesto vor einigen Jahren eröffnet hat, um Pilger auf ihrem Weg zu stärken. Ich spende ein paar Münzen in die Donativo-Kasse, fülle meine Wasserflasche auf und verabschiede mich herzlich. Was für ein wunderbarer Ort, denke ich, als ich Buxán verlasse – beflügelt vom Koffein und der Herzenswärme dieser Begegnung.

    Hinter Buxán führt der Camino wieder in dichteres Grün. Eine schmale Asphaltspur windet sich sanft durch Föhrenwälder, ehe ich nach wenigen hundert Metern wieder auf einen Naturpfad abbiege . Jetzt höre ich das Meer lauter – und plötzlich lichtet sich der Baumbestand. Vor mir öffnet sich die Landschaft und gibt den Blick frei auf einen atemberaubenden Küstenstreifen.

    Erster Blick auf die Praia do Rostro: einen einsamen, vom Atlantik umtosten Strand, der in der Ferne im Dunst verschwimmt. In der Ferne liegt Praia do Rostro, ein langer, breiter Strand an der wilden Atlantikküste. Golden schimmernder Sand erstreckt sich in einem weiten Bogen, flankiert von Dünen und niedrigen Klippen. Meterhohe Wellen rollen mit donnerndem Getöse an den Strand und hinterlassen Gischt, die in der aufgehenden Sonne glitzert. Kein Mensch ist zu sehen – kein Haus, keine Straße, nur unberührte Natur. Ich bleibe einen Moment auf dem Pfad stehen, der nun oberhalb des Strandes entlangführt, und lasse den Anblick auf mich wirken. Das Meer riecht hier salzig und frisch, der Wind zerrt an meinem Hut und trägt feine Sprühnebel bis zu mir herauf. Die Szenerie hat etwas Erhabenes: Hier spürt man, warum diese Küste Costa da Morte – Küste des Todes – heißt, denke ich bei mir, während die Wellen unbarmherzig aufschäumen. Doch gleichzeitig fühle ich mich lebendig und frei, Teil dieser wilden Schönheit.

    Der Weg führt nun leicht abwärts und näher an die Küste heran. Vor mir glitzert eine Pfütze auf dem Pfad – Überreste des Regens der letzten Nacht. Zu meiner Linken kann ich jetzt vereinzelte Häuschen ausmachen, die sich an den Rand der Dünen schmiegen. Es ist das Dörfchen Castrexe, das am nordwestlichen Ende der Praia do Rostro liegt. Als ich die ersten Häuser erreiche, fällt mir auf, dass fast jedes Gehöft einen steinernen Getreidespeicher – einen Hórreo – besitzt. Die schmalen Granitbauten auf Pfeilern reihen sich wie kleine Kapellen entlang des Weges auf , einige mit Maiskolben behängt, andere leer und von Flechten überzogen. Hühner scharren im Sand, und irgendwo bellt ein Hund. Castrexe wirkt verschlafen; kein Café, kein Laden – nur ein paar Fischerboote, die am Rand der Dünen umgedreht lagern, zeugen davon, dass hier Menschen vom Meer leben. Als ich durch die sandige Dorfstraße trauchele, schlägt mir der Geruch von Tang und Teer entgegen, vermischt mit dem milden Stallgeruch der Bauernhöfe.

    Hinter Castrexe verlasse ich die Küste fürs Erste. Ein Wegweiser schickt mich links hinauf in die Hügel. Der Camino wechselt wieder auf unbefestigte Wege und führt durch niedrige Büsche und Farne. Leuchtend grüne Farnwedel reichen mir bis zur Hüfte und kitzeln an meinen Händen, während ich mich einen Pfad hinaufarbeite, der durch den Morgenregen stellenweise rutschig ist. Die Steigung macht mir nun doch etwas zu schaffen; ich merke, wie mein Atem geht und Schweiß sich auf meiner Stirn bildet. In solchen Momenten bin ich froh über meinen Wanderstab, der mir Halt gibt. Schritt für Schritt gelange ich auf eine Kuppe. Von hier oben kann ich noch einmal einen Blick zurück auf den Ozean erhaschen – als wollte er Lebewohl sagen –, bevor der Weg zwischen Kiefern wieder ins Landesinnere abtaucht.

    Nach etwa 9 Kilometern erreiche ich den winzigen Ort Padrís. Ein alter Mann in blauer Arbeitskleidung lehnt am Gartenzaun und grüßt freundlich mit einem “Buen Camino”. Padrís besteht nur aus ein paar Steinhäusern mit roten Ziegeldächern; es scheint, als hätte hier die Zeit keinen Eile. Ich quere den Ort auf einem holprigen Pfad zwischen Gemüsegärten – Stauden von Kohl und Kartoffeln recken sich über die Steinmauern. Am Ortsrand von Padrís führt der Camino auf einem mit Gras bewachsenen Hohlweg in ein Waldstück. Hohe Eukalyptusstämme mischen sich wieder unter die Pinien, und ihr aromatischer Duft begleitet mich. Der Boden unter den Füßen wird weicher und ist bedeckt mit abgefallenen Blättern. Die Stille ist greifbar; nur das Zirpen der Grillen und das gelegentliche Plätschern eines Bächleins sind zu hören. Ich nutze die Ruhe, um einen Müsliriegel aus meinem Rucksack zu holen – bisher gab es seit Finisterre außer dem Pilgerstopp in Buxán keine Verpflegungsmöglichkeit. Zum Glück habe ich genug Proviant mitgenommen, denn unterwegs gibt es hier bis Lires kaum geöffnete Bars oder Geschäfte . Mümmelnd schreite ich weiter, während der Weg sich sanft bergab neigt.

    Schließlich gelange ich nach Canosa, einem kleinen Weiler etwa 11 km seit Finisterre. Canosa begrüßt mich mit stillem Charme: Ein Dutzend grauer Häuser schart sich um eine enge Gasse, in der Hühner umherstolzieren. Auf einem Balkon trocknet Wäsche im Wind, sonst rührt sich nichts. Eine Bar oder einen Laden suche ich vergeblich – dieser Weiler bietet Pilgern keinerlei Dienste, außer vielleicht einem freundlichen “Hola” eines älteren Herrn, dem ich begegne . An der Dorfquelle jedoch kann ich meine Wasserflasche auffüllen: Am Ortsausgang entdecke ich einen steinernen Brunnen mit einem kleinen Rastplatz – zwei Holzbänke unter einer Kastanie laden zur Pause ein . Das klare Quellwasser sprudelt kühl aus einem metallenem Auslass in ein Becken. Dankbar trinke ich ein paar große Schlucke und spritze mir etwas Wasser ins Gesicht. Die Erfrischung tut gut, denn die Sonne steht nun fast im Zenit und die feuchte Wärme des Spätsommer-Vormittags legt sich wie ein leichter Schleier auf die Haut.

    Weiter geht es, nun auf einem breiteren Forstweg. Der Camino biegt hinter Canosa nach Norden ab und folgt einem Bachtal. Zu meiner Rechten höre ich den Rego da Carbaliza, einen kleinen Fluss, der munter neben dem Pfad herfließt . Der Weg selbst ist von grünen Tunneln überwölbt: Üppige Farne und Moos bedecken die Böschungen, und über mir schließt sich das Blätterdach der Eukalypten. Nach einer Weile macht der Pfad eine Kurve, quert den Fluss über Trittsteine – konzentriert hüpfe ich von Stein zu Stein – und steigt dann leicht an. Plötzlich lichten sich die Bäume: Lires liegt vor mir.

    Halbzeit in Lires

    Vor mir öffnet sich das Tal zum Meer hin. In der Senke erkenne ich die roten Dächer von Lires und den Glockenturm der kleinen Dorfkirche, dahinter glitzert die geschützte Meeresbucht von Lires in der Mittagssonne. Ich atme auf – knapp 13 Kilometer habe ich geschafft, ungefähr die Hälfte der Strecke nach Muxía . Über einen Feldweg steige ich hinab in den Ort. An einem Wegkreuz nahe der romanischen Kirche San Estevo de Lires (Santo Estevo) warten bereits ein paar andere Pilger; offenbar bin ich nicht allein auf diesem Weg unterwegs. Ein altgedienter Kilometerstein verrät die Distanz: “Muxía 15 km”, lese ich darauf – so viel liegt noch vor mir.

    In Lires umfängt mich ländliche Idylle. Das Dorf erstreckt sich entlang einer Hauptgasse, gesäumt von traditionellen Häusern mit Blumengärten. Im Hintergrund gluckst ein kleiner Fluss, der hier ins Meer mündet – tatsächlich besitzt Lires die kleinste Flussmündung Galiciens, wie ich aus meinem Reiseführer weiß . Zunächst komme ich an der Dorfkirche vorbei. Ihre Türen stehen offen, also trete ich ein: Im Halbdunkel ruht der schlichte Innenraum, nur eine Kerze flackert. Ich setze mich für einen Moment auf eine Holzbank, lege den Rucksack ab und spüre dankbar die Kühle der dicken Steinmauern. Eine kleine Pause im Gotteshaus tut gut – draußen hört man gedämpft das Zwitschern der Spatzen und in der Ferne das Rauschen des Meeres.

    Wieder draußen folge ich den Schildern zu den Herbergen und Bars. Hinter der Kirche biegt der Weg steil nach rechts ab – wie angekündigt muss man sich den Pausenort erarbeiten, denn eine kurze, knackige Steigung führt hinauf zum höher gelegenen Teil von Lires . Bald gelange ich zum Café und Albergue As Eiras, das am rechten Wegrand liegt. Es ist kurz nach Mittag, und hier herrscht geschäftiges Treiben: Pilger haben sich auf der Terrasse versammelt, dampfender Café con Leche und Teller mit Nudeln oder Salat stehen auf den Tischen. Ich erhasche Wortfetzen auf Deutsch, Spanisch, Englisch – ja, Lires ist ein beliebter Zwischenstopp, viele bleiben über Nacht. Kein Wunder: Das Hotel-Restaurant As Eiras gilt als Oase für Wanderer, mit komfortablen Zimmern und herzhaftem Essen . Es gibt hier sogar ein Pilgermenü mit frischem Fisch aus der Region und Gemüse aus dem eigenen Garten, wie eine Tafel am Eingang verkündet.

    Ich setze mich zu zwei spanischen Pilgerinnen an den Tisch, die ich in Finisterre bereits gesehen hatte. Schnell entspinnen sich Geschichten über den bisherigen Weg, während wir uns eine empanada – die typische galicische Teigpastete – und einen Teller heißen Caldo Gallego (Kohlsuppe) teilen. Dazu eine eiskalte Kas-Limonade, deren Süße sofort neue Energie spendet. Die Wirtin scherzt mit den Gästen und flitzt flink zwischen Theke und Terrasse umher. Im Hintergrund läuft leise Musik, und von irgendwo weht der Duft von gegrilltem Pulpo (Krake) herüber – vielleicht aus der Küche oder einem der benachbarten Restaurants. Tatsächlich hat Lires für seine Größe erstaunlich viele Unterkünfte und Lokale: Auf wenigen hundert Metern finden sich Casa Raúl, Casa Lourido, Casa Luz und weitere Pensionen und Ferienwohnungen für Besucher . Sogar nagelneue Cabañas – hölzerne Bungalows – sollen am Ortsrand stehen . Man spürt, dass dieses einst verschlafene Nest durch den Camino und durch den nahe verlaufenden Camiño dos Faros (Galicischer Küstenwanderweg) einen kleinen Aufschwung erlebt hat.

    Während ich esse, lasse ich meinen Blick über die sanften Hügel schweifen. Unter mir funkelt das Wasser der Ría de Lires, und ich stelle mir vor, wie abends die Sonne glutrot im Atlantik versinkt. Lires ist berühmt für seine spektakulären Sonnenuntergänge über der Meeresbucht – schade, dass ich weiter muss und das heute nicht miterleben kann. Ein paar Pilger haben sich entschlossen zu bleiben; sie suchen bereits ihre Herbergen auf oder strecken sich wohlig gesättigt auf der Wiese nebenan aus. Ich jedoch packe nach einer guten Stunde wieder zusammen. Ein Blick auf meine Uhr mahnt zur Weiterreise – noch etwa 15 Kilometer liegen vor mir, und ein längerer Aufstieg erwartet mich im zweiten Teil. Ich fülle meine Wasserreserven an einer Trinkwasserstelle bei As Eiras auf und verabschiede mich von meinen Tischnachbarn. Bevor ich gehe, kaufe ich mir bei der Bar noch ein Bocadillo (gefülltes Baguette) zum Mitnehmen – man weiß ja nie, ob unterwegs etwas offen hat. Bepackt mit neuen Kalorien und voller Tatendrang schwinge ich den Rucksack auf und mache mich auf den Weiterweg.

    Vom Café As Eiras führt der Camino wenige Meter weiter zu einem Picknickplatz mit Holzbänken, wo erneut ein Wegweiser den Weg weißt . Ich folge dem Pfeil und steige ein paar Stufen hinab. Bald verlasse ich den Asphalt – vor mir führt ein hübscher Pfad mit rechteckigen Steinpflasterplatten bergab durch dichtes Grün. Kinder haben mit Kreide bunte Muscheln und Pfeile auf die Pflastersteine gemalt, fast wie kleine Segnungen für die Weiterziehenden. Nach ein paar Minuten höre ich unten im Tal wieder Wasser rauschen: Über eine elegante Steinbrücke überquere ich den Río Castro, der hier glucksend Richtung Meer fließt . Ein verwunschen wirkender Platz – Farne und Schilf säumen das Ufer, und unter der Brücke haben Schwalben ihre Nester gebaut. Auf der anderen Seite des Flusses steigt der Weg wieder an. Die Steinplatten enden, und ich laufe nun auf einem breiten Wirtschaftsweg bergauf zwischen Feldern. Noch einmal blicke ich zurück: Durch die Bäume kann ich Lires und seine Dächer erkennen, die jetzt unter mir liegen. Ein bisschen Wehmut steigt in mir auf – die nächste Etappe beginnt, sicherlich anstrengender, aber auch einsamer, und Lires mit seinem Komfort liegt hinter mir.

    Über den Monte Facho de Lourido

    Vor mir liegt eine lange Steigung durch die galicische Hügellandschaft. Der Camino führt zunächst auf einer asphaltierten Nebenstraße bergan, die in weitem Bogen durch Wiesen zieht. Die Mittagssonne brennt nun spürbar, aber zum Glück spendet mir mein Hut Schatten, und ein leichter Wind vom Atlantik her sorgt für Abkühlung. Nach gut einem Kilometer erreiche ich wieder den Schutz des Waldes. Der Weg wird nun zum schmalen Erdpfad, der sich unter schattigen Bäumen fortsetzt. Erneut umfängt mich der würzige Duft von Pinien und Eukalyptus. Die Steigung ist sanft, zieht sich aber beständig hin – es fühlt sich an wie ein langer, grüner Tunnel, der mich höher und höher führt. Nach einer Weile treffe ich auf eine kleine Wegkreuzung, an der ein paar verlassene Steinhütten stehen. Ein hölzernes Schild mit gelber Aufschrift zeigt geradeaus: “Muxía”. Hier verlasse ich den Waldweg und folge für einige hundert Meter einer kaum befahrenen schmalen Asphaltstraße. Die Sonne flirrt auf dem grauen Teer, die Hitze lässt die Luft darüber flimmern. Doch schon bald zweigt der Camino erneut links ab – diesmal auf einen Schotterpfad, der wieder in kühle Waldesdunkelheit eintaucht . Dankbar betrete ich den weichen Boden unter den Bäumen und nehme den nächsten Anstieg in Angriff.

    Nach insgesamt etwa 2 Kilometern stetigen Bergaufgehens erreiche ich das Örtchen Frixe. Am Ortseingang von Frixe – einem typischen galicischen Dorf mit vielleicht zwanzig Höfen – spüre ich, dass es Zeit für einen kurzen Halt ist. Ich komme an einem kleinen betonierten Unterstand vorbei, einer Art Bushaltestelle oder Gemeinschaftsplatz, in dem es überraschenderweise einen Getränkeautomaten gibt . Das Summen seines Kühlaggregats wirkt surreal in der sonstigen Stille dieses Dorfes. Daneben stehen ein überdachter Holztisch und Bänke; sogar ein öffentlicher Brunnen mit fließendem Wasser und eine Toilette entdecke ich – offenbar hat die Gemeinde hier an Pilger gedacht . Zwei Wanderer kauen gerade in diesem Unterstand an ihren Broten, grüßen mich und deuten auf den Automaten: “Das beste kalte Cola weit und breit!” lacht der eine. Ich lächle und schiebe ein paar Münzen ein, um mir ebenfalls eine eisgekühlte Cola herauszulassen. Im Schutz des Dachs genieße ich das prickelnd-süße Getränk – eine Wohltat, während draußen kurz ein Regenschauer niedergeht, der wie ein Trommelwirbel auf das Wellblechdach prasselt. Das Wetter kann sich hier schlagartig ändern: Gerade noch Sonnenschein, dann plötzlich Gussregen, der jedoch nach fünf Minuten auch schon wieder abzieht und blauen Himmel zurücklässt. Frixe selbst scheint im Dornröschenschlaf zu liegen; niemand ist auf der Straße zu sehen.

    Ich überlege kurz, ob ich einen Abstecher zur örtlichen Bar machen soll. Laut einem Aushang gibt es hier tatsächlich ein Gasthaus namens “O Alemán”, allerdings einige hundert Meter abseits der markierten Route, in einem Weiler namens Castro de Frixe. Ein Pfeil zeigt nach rechts die Hauptstraße hinauf. Doch da ich gerade versorgt bin und noch gut vorankommen will, entscheide ich mich dagegen – der Umweg würde Zeit kosten. Für hungrige Pilger sei erwähnt, dass man diese Bar mit kleinem Lebensmittelladen in Kauf nehmen kann, wenn man Frixe erreicht; sie liegt nur ein paar Minuten neben dem Camino . Außerdem gibt es in Frixe ein Landhotel namens Casa Ceferinos, das allerdings etwas außerhalb liegt – wer lieber hier nächtigen will statt in Lires oder Muxía, kann das tun . Doch ich ziehe weiter.

    Hinter Frixe ändert sich die Landschaft: Der Weg wird wieder ein Forstweg und führt in ein hügeliges Heidegebiet. Ich wandere an knorrigen Kiefern vorbei, die inmitten von Farnteppichen stehen, und immer höher hinauf. Der Regen hat die Luft abgekühlt, und beim Aufstieg spüre ich, wie meine Beinmuskeln arbeiten – Schritt für Schritt, ruhig atmen. Die Einsamkeit hier oben ist fast vollkommen. Ich höre nur meine eigenen Schritte und meinen Atem, sonst nichts. Diese Stille und Monotonie laden zum Nachdenken ein. Während ich steige, ziehen Gedanken an den vergangenen Wochen auf dem Jakobsweg durch meinen Kopf. So vieles habe ich erlebt seit dem Start in Santiago: Begegnungen, Schmerzen, Glücksmomente. Der Weg ist nicht nur äußerlich mühsam, auch innerlich arbeitet er in mir. Jetzt, da Muxía und damit das wirkliche “Ende der Welt” näher kommen, merke ich eine Mischung aus Wehmut und Vorfreude in mir aufsteigen. Wehmut, dass diese Pilgerreise enden wird – Vorfreude, es geschafft zu haben und die Erfüllung am Ziel zu erleben. Ich atme tief die würzige Waldluft ein, lasse die Gefühle kommen und gehen, Schritt um Schritt. Pilgern ist manchmal wie Meditation: der Körper in Bewegung, der Geist wird ruhig. Fast automatisch finde ich einen Rhythmus – ein Schritt pro Atemzug –, der mich gleichmäßig den Hang hinaufführt.

    Nach rund 2,5 Kilometern gleichmäßigen Anstiegs durchquert der Camino den Weiler Guisamonde. Weiler ist fast schon übertrieben: Ein halbes Dutzend Häuser, ein bellender Hund an der Kette und weit und breit keine Menschenseele. Guisamonde ist einer jener Orte ohne jede Infrastruktur, durch die der Weg nur hindurchhuscht . In ein paar Minuten habe ich die Ansammlung auch schon hinter mir gelassen, weiter aufwärts ziehend. Nun wird der Weg steiler. Ich biege von einem Schotterpfad auf eine schmale Asphaltstraße ein, die schnurgerade den Hang hinaufführt. Dieser Abschnitt verlangt mir einiges ab – nach den sanften Anstiegen kommt jetzt ein richtiger Anstieg, und zwar auf hartem Untergrund. Meine Füße pochen leicht in den Schuhen, die Kilometer in den Beinen machen sich bemerkbar. Ich lege einen langsameren Gang ein. Der Himmel hat sich wieder bezogen; graue Wolken ziehen auf und tauchen die Hochebene in diffuses Licht. Meine Gedanken verstummen, stattdessen wird mir jeder Atemzug bewusst. Hier auf der Anhöhe pfeift plötzlich ein kräftiger Wind durch die Eukalyptusstämme und bringt sie zum Ächzen. Kleine Regentropfen beginnen erneut, vom Himmel zu fallen und prickeln auf meiner verschwitzten Haut. “Nur noch ein Stück, gleich oben,” rede ich mir gut zu.

    Bald tauchen die ersten Gebäude von Morquintián auf, dem nächsten Dorf, das etwa auf 19 Kilometern Strecke liegt. Ich weiß: Hier oben irgendwo liegt der höchste Punkt des Tages, der Monte Facho de Lourido mit etwa 270 Metern Höhe , aber noch bin ich nicht ganz dort. Morquintián selbst schmiegt sich an den Hang – ich erkenne einige graue Häuser und einen auffällig großen steinernen Hórreo, der wie ein Wächter am Dorfeingang steht . Als ich zwischen die Häuser trete, begrüßt mich eine fast schon klassische galicische Szenerie: Gleich neben dem Weg steht ein reich verziertes Steinkreuz, ein Cruceiro, neben dem frisches Quellwasser aus einem steinernen Brunnen fließt . Dankbar lege ich meinen Rucksack ab, tauche meine Hände in das kalte Wasser und befeuchte Stirn und Nacken. Der leichte Nieselregen hat aufgehört, doch dunkle Wolken hängen noch über mir – die Stimmung hier wirkt urtümlich und mystisch. Das Kreuz von Morquintián markiert wohl seit Jahrhunderten einen bedeutungsvollen Punkt; vielleicht haben Pilger hier früher innegehalten für ein Gebet. Ich tue es ihnen gleich und genieße einen Moment der Konzentration, während nur das Plätschern des Brunnens und das Pfeifen des Windes zu hören sind.

    Noch während ich den Rucksack wieder schultere, fällt mein Blick auf ein handbeschriebenes Schild am Wegrand, direkt unter dem Cruceiro: “Bar O Camiño Marisol – 200 m” steht dort mit einem Pfeil nach vorne. Tatsächlich erkenne ich ein Stück weiter ein Haus mit einer kleinen Terrasse und bunten Wimpeln davor – sieht aus wie eine improvisierte Bar in einem ehemaligen Bauernhof. Meine Augen leuchten: Eine offene Bar hier oben, das kommt mir gerade recht! Ich folge dem Pfeil und keine zwei Minuten später stehe ich vor der Bar “O Camiño”, die von der fröhlichen Marisol betrieben wird. Sie winkt mich bereits herein, als ich zögere. Die Bar besteht im Grunde aus ihrer umgebauten Garage: ein paar einfache Holztische, Stühle mit bunten Kissen, an der Wand einige Wegweiser und Fotos. Zwei weitere Pilger sitzen bereits da und schlürfen heiß dampfenden Kaffee. „¡Hola, peregrino! Bienvenido, komm herein aus dem Wind!“, ruft Marisol. Überwältigt von ihrer herzlichen Art trete ich ein. Drinnen ist es gemütlich und sauber – an einer Ecke hängt sogar ein Mehrfachstecker, wo ich mein Handy laden darf, “claro, kein Problem”, lacht sie . Ich bestelle einen Café con Leche und ein Stück Tarta de Santiago (Mandelkuchen). Während sie alles zubereitet, trage ich mich ins Gästebuch ein und stempele meinen Pilgerpass mit ihrem Bar-Stempel, der auf dem Tresen liegt – Souvenirs dieser letzten Etappe.

    Marisol erzählt, dass sie die Bar erst vor Kurzem eröffnet hat, um Pilgern eine kleine Stärkung zu bieten. In der Tat wirkt die Existenz dieser Bar wie ein Segen: Ein richtiger “Willkommensort” hier oben, wo es sonst nichts gibt, und das Angebot ist perfekt abgestimmt auf unsere Bedürfnisse . Es gibt heißen Tee und Kaffee, kalte Getränke, sogar Bier, und ein paar Snacks wie Donuts und hausgemachten Kuchen . Während ich an meinem süßen Kuchen kaue, schaue ich durch das offene Tor nach draußen: Der Himmel klart gerade wieder etwas auf, Sonnenstrahlen brechen durch und beleuchten die nassen Wiesen. Marisol plaudert mit uns Gästen, fragt nach dem Woher und Wohin. Ihre liebevolle Art lässt mich fast vergessen, dass ich noch ein gutes Stück des Weges vor mir habe. Schließlich bezahle ich – die Preise sind moderat, eigentlich ist es wie überall auf dem Camino eher eine Donativo-Geste – und schultere wieder den Rucksack. Ich bedanke mich überschwänglich bei der Gastgeberin: “Muchísimas gracias, Marisol. Su bar es un oasis perfecto – ein perfekter Ort zum Verschnaufen.” Sie winkt lachend ab: “Buen camino y que Dios te bendiga!” – Gott segne dich auf deinem Weg. Mit neuem Schwung trete ich hinaus. Tatsächlich, diese kleine Pause war Gold wert; ich fühle mich erfrischt und gestärkt für den finalen Anstieg.

    Kaum lasse ich Morquintián hinter mir, zieht der Pfad noch einmal ordentlich an. Es sind nur noch etwa 2 Kilometer bis zum höchsten Punkt, aber nun geht es richtig bergauf. Zunächst folge ich weiter der kleinen Straße, die sich aus dem Ort hinauswindet. Der Wind frischt wieder auf und trägt nun ein tiefes Rauschen heran – zunächst halte ich es für das Meer, doch als ich ums Eck biege, sehe ich die Quelle: Windräder, gigantische weiße Windkraftanlagen auf dem Höhenrücken vor mir, drehen sich knarzend in der steifen Brise . Sie markieren die Kammlage des Monte Facho de Lourido, meiner nächsten Etappe. “Immer den Windrädern entgegen,” murmle ich schmunzelnd – tatsächlich scheinen in Galicien fast alle größeren Erhebungen von diesen surrenden Riesen bevölkert zu sein. Ich verlasse den Asphalt ein letztes Mal, als der Camino an einer Kurve rechts auf einen steinigen Waldweg abzweigt . Jetzt wird es ernst: Ein schottriger Pfad führt schnurgerade in Richtung der Windräder steil nach oben. Die Vegetation ist hier karg; niedrige Büsche und Heidekraut dominieren. Der Wind pfeift ungehindert und treibt mir kleine Regentropfen – oder ist es sogar feiner Hagel? – ins Gesicht . Ich ziehe meinen Poncho über, denn der Himmel hat sich bedrohlich verdunkelt. Die letzten Meter verlangen mir alles ab: Der Pfad führt direkt unter einer Reihe von hochspannungsführenden Strommasten entlang, ich sehe nur noch die grauen Schottersteine vor mir und setze einen Fuß vor den anderen . Mein Herz pocht laut in meiner Brust, meine Oberschenkel brennen. “Gleich bist du oben, gleich geschafft,” rede ich mir Mut zu. Endlich, mit einem letzten kraftvollen Schritt, erreiche ich den Scheitelpunkt – den Facho de Lourido.

    Ich bleibe stehen. Ringsum fegt der Wind über die kahlen Hänge, lässt die Windräder rauschen und zerzaust meinen Poncho. Doch genau in diesem Moment reißt die Wolkendecke ein Stück weit auf: Ein gleißender Sonnenstrahl bricht hervor und taucht die Szenerie in dramatisches Licht. Ich stehe auf ca. 270 m Höhe, dem höchsten Punkt des Weges , und schaue erstaunt um mich. Unter mir erstreckt sich nach Norden und Osten hin sanft hügeliges Land, im Westen erkenne ich zwischen dunklen Wolkenbändern das tiefe Blau des Atlantiks. Das Gehen hat aufgehört – Stille in Bewegung und doch ein Sturm im Außen. Ich spüre einen überwältigenden Moment von Freiheit und Erleichterung. Der schwierigste Teil ist geschafft. Eine Flut von Emotionen steigt in mir auf: Stolz, Demut, Dankbarkeit. Ich denke an alle, die mich auf diesem Weg im Geiste begleitet haben. Hier oben, allein mit dem Wind und dem Himmel, fühle ich mich ihnen nah. Für einen Moment schließe ich die Augen und lasse den Regen mein Gesicht benetzen – es fühlt sich an wie eine Taufe am Ende dieser Pilgerschaft, eine Reinigung vor dem Ziel.

    Ankunft in Muxía

    Der weitere Weg ist nun eindeutig: Vom Gipfel aus führt der Camino nach rechts und verlässt die Linie der Windräder . Ich biege also ab und beginne den Abstieg. Anfangs geht es noch gemächlich über breite Schotterpisten bergab, doch bald wird der Weg steiler. Die Strecke windet sich in Serpentinen den Hang hinunter, an manchen Stellen sind Bauarbeiter gerade dabei, den Weg mit Fräsen zu glätten – es scheint, man verbessert die Route für künftige Pilger . Ich muss vorsichtig sein: Der Regen hat die Erde glitschig gemacht, und Geröll liegt auf dem Pfad. Schritt für Schritt taste ich mich abwärts, dankbar für meinen Wanderstock, der mir Stabilität gibt. Bald verlasse ich den offenen Hang und tauche wieder in einen lichten Wald ein. Hier zweigt der Camino scharf nach rechts ab, dann gleich wieder links, nun auf einen grasigen Traktorweg zwischen duftenden Eukalyptusbäumen . Meine Knie protestieren ein wenig beim stetigen Bergab, doch die Vorfreude auf das Ziel trägt mich weiter.

    Nach etwa 2 Kilometern Abstieg erreiche ich die Häuser von Xurarantes . Ein schlichtes Schild heißt mich “Benvido a Xurarantes” willkommen . Das „Dorf“ besteht nur aus wenigen Höfen. Hühner laufen gackernd über den Weg, als ich durch die Mitte der Ansiedlung gehe. Ein alter Mann lehnt an seiner Haustür und beobachtet mich neugierig. Ich grüße freundlich; er nickt wortlos zurück. In der Ortsmitte steht ein weiterer steinerner Wegweiser: Muxía 3 km, lese ich darauf – jetzt ist es wirklich nicht mehr weit . Die Wegmarke gibt mir einen Energieschub. Hinter Xurarantes führt die Straße steil weiter talwärts. Ich folge ihr für einige hundert Meter, als mir eine kleine Quelle am Weg auffällt. Links des Pfades, unter einer großen Eiche, fließt Wasser aus einem bemoosten Rohr – vermutlich der zweite der zwei Brunnen, von denen andere Pilger berichtet hatten, die man zwischen Lires und Muxía findet . Ich nutze die Gelegenheit und nehme einen kräftigen Schluck. Das kalte Wasser rinnt meine Kehle hinunter und löscht den Durst, der sich nach all der Anstrengung bemerkbar macht.

    Weiter unten stoße ich auf eine Querstraße – die DP-5201, eine Landstraße, die direkt nach Muxía führt . Hier biege ich rechts ab. Der Kontrast könnte größer kaum sein: Nach Stunden auf Wald- und Schotterpfaden schreite ich nun auf Asphalt mit Mittelstreifen dahin. Zum Glück gibt es einen Seitenstreifen, und die wenigen Autos, die vorbeikommen, weichen respektvoll aus. Vor mir, am Fuße des Hügels, beschreibt die Straße eine scharfe Linkskurve und führt über einen kleinen Kreisverkehr – der erste Kreisverkehr seit langem, ein Zeichen der nahenden Zivilisation. Und dann, ganz plötzlich, umfängt mich ein neuer Geruch: salzige Meeresluft mischt sich mit einem Hauch Tang – ich habe wieder die Küste erreicht. Rechterhand öffnet sich der Blick auf einen breiten, hellen Strand: die Playa de Lourido . Die geschützte Bucht liegt ruhig da; kleine Wellen plätschern ans Ufer, das von Pinien gesäumt wird. Heute ist kein Badewetter – noch immer fallen einzelne Regentropfen – und so ist der Strand leer. Ich genieße kurz die friedliche Szenerie, doch die Anziehungskraft des Ziels ist stärker, also gehe ich zügig weiter.

    Die Straße folgt nun der Küstenlinie, schwenkt Richtung Norden und wird zur Uferstraße von Muxía . Neben mir taucht ein Fußballplatz auf, dessen Rasen im Regen saftig grün leuchtet. Ein paar Jungs in Trainingskluft laufen gerade lachend über das Feld – welch ein alltägliches Bild, fast bizarr nach der Einsamkeit der letzten Stunden. Hinter dem Sportplatz sehe ich erstmals die Silhouette von Muxía: Die Häuser ziehen sich an einem Hügel entlang, vor ihnen ragt ein kleiner Hafenpier in die Bucht. Am Ortseingang begrüßt mich eine letzte Wegmarke mit der Aufschrift “Muxía – 1 km” . Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht, und trotz meiner Müdigkeit beschleunige ich meine Schritte. Der Regen hat nun ganz aufgehört, stattdessen kämpft sich die Sonne wieder hervor und taucht die Küste in ein mildes Nachmittagslicht. Links von mir peitschen die Wellen gegen schwarze Felsen – ein wilder, wunderschöner Anblick, der ahnen lässt, warum man diese Gegend seit jeher die Costa da Morte nennt . Gleichzeitig fühle ich mich unbändig lebendig und frei, als ich den letzten Kilometern entgegenmarschiere.

    Der Santuario da Virxe da Barca auf den Klippen von Muxía – ein spiritueller Ankerpunkt am sturmumtosten Atlantik. Schließlich erreiche ich die ersten Häuser von Muxía. Enge Gassen zweigen vom Küstenboulevard ab, der an der Hafenpromenade entlangführt. Fischerboote schaukeln im kleinen Hafenbecken, und Möwen kreischen über den Kais. Ich gehe jedoch weiter, direkt auf der Hauptstraße entlang der Westküste der Halbinsel, denn mein Ziel liegt ganz am Ende der Landzunge. Und da erblicke ich es bereits in der Ferne: Zwei markante Türme ragen vor dem Hintergrund der schäumenden See in den Himmel – der Santuario da Virxe da Barca, die Heiligtumskirche unserer Lieben Frau vom Boot . Mein Herz hüpft vor Freude und Ergriffenheit. Die Wallfahrtskirche duckt sich auf einem Felsplateau direkt am Atlantik, wo die Wellen mit voller Wucht gegen die Klippen schlagen. Dieser Ort strahlt eine kraftvolle Magie aus: Hier mischen sich uralte Legenden und christliche Tradition zu einer Atmosphäre, die jeden Pilger in den Bann zieht. Der Sage nach erschien der Jungfrau Maria dem heiligen Jakobus hier in Muxía in einem steinernen Boot, um ihn zu ermutigen . Als Beweis blieben Teile dieses steinernen Bootes in Form von Felsformationen zurück – die sogenannten Pedras: etwa die Pedra dos Cadrís, ein segelförmiger Fels, unter dem man hindurchkriecht in der Hoffnung auf Heilung von Rückenschmerzen und Unfruchtbarkeit, oder die berühmte Pedra de Abalar, der Schaukelstein, der sich früher leicht bewegte und Unheil vorhersagen sollte . Diese Steine liegen unmittelbar neben dem Heiligtum und verleihen dem Platz eine mystische Aura.

    Als ich mich der Kirche nähere, spüre ich den Wind am Kap stärker wehen. Er zerrt an meiner Kleidung und trägt die Gischt der Brecher bis zu mir herauf. Der Santuario wurde im 18. Jahrhundert errichtet, anstelle einer älteren Kapelle, und trotzt seither den Elementen an diesem exponierten Platz . (Vor einigen Jahren hat ein Blitz die Kirche am Weihnachtstag getroffen und ein Feuer entfacht, doch mittlerweile ist sie liebevoll restauriert, als sei nichts geschehen.) Jetzt am späten Nachmittag ist kaum jemand hier. Ich steige die letzten Felsstufen hinauf zum Vorplatz des Heiligtums. Dann setze ich mich erschöpft, aber überglücklich auf einen großen, vom Wind glattgeschliffenen Granitblock direkt neben der Kirche. Vor mir tobt das Meer. Das Donnern der Brandung und das Schreien der Möwen erfüllen die Luft, während die Sonne zwischen den Wolken hervorblitzt und ein Stück Regenbogen über dem Horizont erscheint. In diesem Moment fühle ich einen tiefen inneren Frieden – eine stille Ankunft nach all den Kilometern. Viele Pilger sagen, dieser Ort schenke ihnen noch mehr Ruhe als Finisterre , und jetzt verstehe ich warum. Es ist ein Ende und ein Anfang zugleich, ein Ort zum Loslassen und Kraftschöpfen.

    Tränen der Freude steigen in meine Augen. Ich denke an die Worte, die ich irgendwo gelesen habe: “Muxía ist eigentlich der westlichste Punkt des spanischen Festlands, also das wahre Ende der Welt – aber wen kümmern schon solche Details?” . Für mich fühlt es sich tatsächlich an, als sei ich am wirklichen Ende der Welt angekommen. Und doch spüre ich, dass der Weg in mir weitergehen wird, auch wenn die physische Wanderung hier ihr Ziel findet. Ich lege den Kopf in den Nacken und lasse den Wind über mein Gesicht streichen, schließe die Augen. In meinem Innern danke ich für die sichere Reise, für all die Erlebnisse, Herausforderungen und Wunder, die mir der Jakobsweg bis hierher geschenkt hat.

    Nach einiger Zeit rappele ich mich auf und gehe die wenigen Schritte zur Kirchenpforte. Sie ist – zu meiner Freude – geöffnet. Ich trete ein in den heiligen Raum, der nach Weihrauch und Kerzen duftet. Kein Mensch ist zu sehen. Im diffusen Licht der Abendsonne, die durch ein kleines Fenster fällt, knie ich mich in eine der Bänke. Vorne im Altarraum thront die Figur der Virgen de la Barca, kunstvoll geschnitzt, mit einem kleinen Boot zu ihren Füßen. Ich schließe die Augen und verweile in stillem Gebet oder einfach nur in Dankbarkeit. Das Rauschen des Meeres ist selbst hier drinnen leise wahrnehmbar und klingt wie eine himmlische Orgel.

    Schließlich verlasse ich die Kirche und mache mich auf in den Ort, um eine Bleibe für die Nacht zu finden. Muxía bietet zum Glück zahlreiche Unterkünfte für Pilger. Ich entscheide mich für die Albergue Muxía Mare, die an der westlichen Uferstraße liegt, unweit vom Ortskern . Freundlich werde ich von den Hospitaleras empfangen – zwei Schwestern, die das Haus mit viel Herzlichkeit führen. Die Herberge ist klein und gemütlich, fast familiär, genau das Richtige nach diesem langen Wandertag . Ich bekomme ein Bett mit Privatsphäre-Vorhang im Schlafsaal, heiße Dusche inklusive. Alternativ hätte ich auch im modernen Albergue Bela Muxía unterkommen können, am nördlichen Ende des Orts näher zur Kirche, die ebenfalls einen exzellenten Ruf hat . Doch ich bin glücklich mit meiner Wahl: Vom Fenster der Muxía Mare schaue ich direkt hinaus auf die schroffe Küste. Während ich meine müden Füße hochlege, sehe ich draußen die letzten Sonnenstrahlen über den Wellen tanzen . Die Costa da Morte präsentiert sich jetzt, da der Sturm sich gelegt hat, von ihrer sanften Seite.

    Später am Abend gönne ich mir in einer kleinen Hafen-Taverne ein deftiges Abendessen: frischen Fisch, der am Morgen noch im Atlantik schwamm, dazu knusprige Patatas und einen Schluck kühlen Ribeiro-Wein. Die Bar ist erfüllt vom Murmeln der Einheimischen, die den Tag ausklingen lassen. Ich sitze mit meinem Pilgermenü etwas abseits, betrachte meine Compostela-Urkunde und überlege, mir morgen im Rathaus die Muxiana abzuholen – die offizielle Pilgerurkunde von Muxía . Doch das hat Zeit bis morgen. Jetzt ist erstmal Feiern angesagt: im Stillen, in mir drin.

    Spät am Abend spaziere ich noch einmal zurück zur Punta da Barca, zum Santuario. Die Dunkelheit ist hereingebrochen, der Leuchtturm von Cabo Villano gegenüber sendet sein Blinklicht über die Bucht. Die Sterne glitzern zwischen zerfetzten Wolken. Die Wellen sind weiterhin unermüdlich, aber ihre Gischt erscheint nun milchig im Mondlicht. Ich setze mich auf die kalten Felsen und höre der Melodie des Meeres zu. Ein Gefühl tiefster Zufriedenheit breitet sich in mir aus. Ich bin angekommen – wirklich angekommen. Hier am Ende der Welt fühle ich mich der Welt näher denn je. Mit diesem Gedanken beschließe ich meinen Tag. Ich kehre zur Herberge zurück, wo ich bald in einen tiefen Schlaf falle, begleitet vom fernen Rauschen des Atlantiks und dem Wissen, dass dieser Weg mich für immer verändert hat.

    Buen Camino – und gute Nacht.

    Dieser Artikel wurde erzeugt, indem ein GPX-Trail von GPT O3 analysiert wurde. Anschließend hat GPT eine „Deep Research“ im Web durchgeführt und die Erlebnisse vieler Pilger zu diesem Bericht kompiliert. Ich selbst war so wenig in Spanien, wie Karl May in Amerika.

  • Von Frakturen und Freiheit

    Jede Reise, heisst es, begänne mit dem ersten Schritt.

    Wie falsch das ist, habe ich auf meinem Camino herausgefunden, ohne überhaupt richtig losgegangen zu sein.

    Ich stehe noch in meiner Küche und bereite mich auf den Camino vor, und schon habe ich mich selbst besiegt – und zwar auf die denkbar groteskeste Weise. Nicht etwa ein mythischer Drache stellte sich mir entgegen, sondern ein Paar schäbige Bürohalbschuhe. Vierzig Kilometer weit bin ich darin marschiert, nicht etwa als heldenhafter Asket wie Jesus in Sandalen oder der Buddha barfuß durch den Dschungel, nein – einfach nur aus Übermut, Trotz und einer gehörigen Portion Arroganz und Selbstüberschätzung. Das Ergebnis: eine Marschfraktur im Mittelfuß, MT3 und MT4 rechts, wenn wir präzise sein wollen.

    Das Runner’s High, über das ich zuvor gelacht hatte wie über das Yeti-Sichten am Himalaya, erwischte mich voll und ganz. Trotz Schmerzen weiterzulaufen schien mir plötzlich nicht nur logisch, sondern sogar alternativlos. Uber? Ein Taxi? Das wäre doch Verrat gewesen! Also humpelte ich weiter, beseelt wie ein heiliger Krieger auf Mikrodosis-LSD, mit missionarischem Eifer und vollkommenem Realitätsverlust. Ich beging dabei fast schon Gewalt gegen mich selbst.

    Im Rückblick, gemütlich humpelnd mit meiner orthopädischen Aircast-Schiene – dieser Panzerung, die mich schützt, aber zugleich isoliert – wird mir klar, dass das Pilgern tatsächlich nicht erst auf dem Weg beginnt, sondern bereits in meiner Küche, zwischen selbstgebrauter Elektrolytlösung und hausgemachter Lederpflege aus Bienenwachs, Lanolin und Olivenöl. Ein bisschen Carnauba-Wachs dazu, fertig war die alchemistische Schuhcreme. Vaseline? Erdölprodukte? Nie wieder! Sie sind eine Versiegelung für die Ewigkeit, ein Panzer, der jeden Austausch, jedes Altern und jeden Kreislauf unterbindet. Meine Schuhe sollen atmen, leben, biologisch abbaubar sein – nicht tot versiegelt wie ein Pharaonengrab.

    Und plötzlich sehe ich das alles in einem größeren Zusammenhang: Wir Menschen suchen immer nach der billigen, dauerhaften Lösung – Paraffin, Plastik, Beton. Wir bauen Welten, die nichts mehr zurückgeben, Materialien, die nicht sterben dürfen, Systeme, die dem Zerfall nicht trauen. In unserer Angst vor Vergänglichkeit konstruieren wir Langlebigkeit ohne Rücksicht auf Kreisläufe. Doch was nicht stirbt, lebt auch nicht wirklich. Mit jedem Schritt, den ich tue – sei es im Hochgebirge oder durch die Fußgängerzone – bringe ich genau diese Entscheidung mit: Trage ich zum Kreislauf bei, oder unterbreche ich ihn? Bin ich Teil des Stoffwechsels oder dessen Blockade?

    Was ich an den Füßen trage, ist mehr als Schuhwerk. Es ist eine Haltung. Die Wahl zwischen Panzerung und Verbindung. Zwischen Isolation und Austausch. Zwischen Überleben um jeden Preis und einem Leben im Dialog mit der Welt. In der Art, wie wir unsere Schuhe pflegen, unsere Wege gestalten und unsere Städte bauen, entscheidet sich, ob wir der Erde einen Weg zurück zeigen – oder ihr aus Dummheit und willentlicher Ignoranz nur einen weiteren Fußabdruck in die Fresse treten. 

    Mein Camino beginnt also mit einer Lektion in Demut. Nicht die Strecke ist die erste Prüfung, sondern die Vorbereitung selbst – die Bereitschaft, mich selbst nicht zu überschätzen, meinen Körper zu respektieren und mit ihm in Beziehung zu treten. Vielleicht hätte Buddha heute auch Wanderschuhe getragen, denke ich schmunzelnd.

    Jetzt bereite ich mich nicht nur körperlich, sondern vor allem mental vor. Ich trainiere Geduld und lerne zu unterscheiden zwischen guter Selbstüberwindung und falschem Stolz. Ich frage mich dabei immer wieder: Was trage ich buchstäblich mit jedem Schritt in die Welt? Eine Panzerung ohne Rücksicht auf Verluste oder Offenheit, Verletzlichkeit und echten Austausch? Ein atmender Schuh oder ein hermetisch versiegeltes Denkmal in Öl?

    Gelernt habe ich die Bereitschaft, auch einmal einen nassen Fuß zu riskieren. Ich habe gelernt, mich selbst zu respektieren, statt mir meine eigenen Ziele gewaltsam aufzudrücken und ich habe gelernt, dass nichts für die Ewigkeit hält, weil es das einfach nicht sollte. Das ganze ist unteilbar, ewig in Fluss und Austausch. Fußschuh und Weg sind eins und beeinflussen einander. Wenn ich aufhöre, das wahrzunehmen, weil ich es gewaltsam durchziehen will oder diesen Kreislauf unterbreche, durch Vaseline und andere Erdölprodukte führt das zu nichts gutem.

    Ich habe immer gedacht, was soll man eigentlich lernen, bloß weil man mal einen Monat durch das staubige Nordspanien läuft? Wenn ich sehe, was all das jetzt schon in mir auslöst, frage ich mich, ob ich so viel Erkenntnis überhaupt ertragen würde. 

    Mein Pilgerschuh steht bereit, eingecremt mit dem selbstgebrauten, nach Lavendel duftenden Yak-Balsam. Die Reise, so spüre ich, wird mir noch einiges abverlangen. Vor allem aber eines: Nicht noch einmal dieselbe Dummheit zu begehen. Auf geht’s!

  • Stoa, Spekulation und Friedensgebete

    Bei den Friedensbewegten aus Tamera war es Konsens. Man machte sich Gedanken über den Nahostkonflikt. Wir sprachen darüber und wir sprachen darüber, wie wir darüber sprachen. Es war anstrengend, hinterließ ein Gefühl von Ohnmacht und dann schließlich Abstumpfung, Depression, emotionalen Rückzugs. Vor Ereignissen, die weit weg sind, kann man nicht fliehen, man kann nicht kämpfen. Wie überhaupt? Alle sympathisch/vegetativ verdrahteten Reaktionen fallen aus. Es bleibt: Totstellen. Freeze, wie die Psychologen sagen. Es ist im Grunde einen Schritt vor der schizoiden Dissoziation. „Damit habe ich nichts zu tun. Das hat jemand anderes erlebt.“ Die Erinnerung zerfällt bei thraumatisierenden Ereignissen in ein gutes Leben und eine Art „Bad Bank“. die Persönlichkeit, die mit dieser „Bad Bank“ umgeht, ist irgendwie dazu in der Lage. Sie wird fähig, wo der eigentliche Charakter überfordert ist. Die „moralische Verletzung“ besteht jetzt darin, dass man gerne helfen würde, aber nicht kann. Folglich aufhört sich zuzuwenden und schließlich Post Hoc eine Begründung findet, warum das Okay ist. Gollum und Sméagol veranschaulichen diese Dynamik sehr graphisch.

    So ähnlich, zweigeteilt und irgendwie unvollständig zusammengesetzt fühlte ich mich, als ich wieder zu Hause begann, dem News Feed zu folgen. Ich muss dazu sagen, dass ich die Nachrichten normalerweise aus einem bestimmten Zweck verfolge. Ich treffe Entscheidungen als Kleinanleger. Gleich dazu sagen sollte ich, dass News Trading keine gute Idee ist. All zu oft, ist die News zu alt, die Information unvollständig oder schlicht nicht die ganze, relevante Wahrheit, um einen gelingenden Trade zu machen.

    Deshalb hatte ich, als ich hörte, die USA ziehen ihre Diplomaten aus dem nahen Osten so weit wie möglich ab, eine Trading Idee. Öl. Wenn Israel den Iran angreift und darauf hin die Straße von Hormus blockiert wird, bedeutet dass der Ölpreis explodiert. Da alle Lieferketten von Öl abhängen bricht die Weltwirtschaft ganz wesentlich ein. 20% des täglichen Ölbedarfs gehen durch diese Meerenge. Alle Produkte werden teurer, die Zinsen steigen, Kredite werden teurer, die Wirtschaft lahmt. Bisher ist es zu einer Blockade dieser Meerenge nicht gekommen. Schon jetzt ist aber der Marktpreis für Öl um 10% gestiegen. Mit einem gehebelten ETF hätte ich 50% auf mein Kapital in 24 Stunden erwirtschaften können. Hinterher weiss man immer mehr.

    24 Stunden später ziehen Leuchtspurgeschosse über den Himmel über Teheran. 24 Stunden später, sind ungefähr 80 Menschen tot und viele weitere verletzt. Die Menschen in Israel verstecken sich in Schutzräumen und unter dem „Iron Dome“. Ob sie Angst haben? Ob jemand auf der anderen Seite der Welt am Heizöl spart? Ist irgendwo ein Notstromgenerator eines sowieso schon am Limit arbeitenden Krankenhauses aufgrund der Ölpreise nicht mehr befüllbar?

    Ich habe keinen Öltrade gemacht.Begründung? Ich wünschte ich könnte sagen: „Siehe oben.“ Es wäre aber nur die Hälfte der Wahrheit. Es stimmt, dass ich moralische Bedenken hatte. Daneben ist aber eben news-Trading eine aus weiter oben dargestellten Gründen unsichere Sache. Es war auch etwas Vorsicht oder Mutlosigkeit dabei.

    Ich hätte das Geld gut gebrauchen können. Vor einigen Tagen hatten mein Bruder und ich versucht, viele Termine in zu wenig Zeit zu quetschen. Ergebnis war ein Fehler beim Ausparken mit entsprechendem Blechschaden. Aus für den Gedankengang uninteressanten Gründen, geht es meinem Bruder gerade nicht sehr gut. Entsprechend frustriert war er. Wie schön wäre es da, wenn ich sagen könnte: „Ach, Bruder. Nicht so wild. Im nahen Osten sterben Menschen. Dein Blechschaden ist quasi bezahlt.“ Und damit wären wir wieder bei den tragischen Figuren von Sméagol und Gollum. Aber gibt es angesichts des unvorstellbaren Leids in den diversen Kriegsgebieten eine Möglichkeit nicht politisch schizophren zu reagieren?

    Ich suche Rat in der Stoa. Als die griechische Kultur um Christi Geburt im Helinismus unterging, entstanden eine Menge Chaos, Verwirrung und Leid. In den Markthallen dieser Zeit, wo die News der römisch/ägyptischen Auseinandersetzungen einliefen, wo man vom Aufstieg und Fall Karthagos hörte, fragten Sklaven und Kaiser gleichermaßen, wie man mit den persönlichen Schicksalschlägen und politischen Umwälzungen umgehen könnte.

    Epiktet lebte als Sklave in Ketten und fand doch Freiheit in der Art und Weise, wie er mit seinem Leben umging. Nicht das „was“ geschah, sondern das „wie“ er darauf reagierte war für ihn wichtig. Es war nämlich das, was er beeinflussen konnte,. Marcus Aurelius war fast zur selben Zeit der mächtigste Mann der Welt. Er war nicht amerikanischer Präsident, sondern römischer Kaiser und musste doch Pest und sogar den Verlust seiner eigenen Kinder ertragen,. Er benutzte das Bewusstsein über das Leid anderer, um das eigene Empfinden von Unglück zu relativieren.

    In heutigen Zeiten sprechen Autoren wie Steven Covey „Seven habits of highly effective people“ und Jordan Petersen „Twelve rules four life“ zu mir. Covey unterscheidet den „Kreis unseres Einflusses“ vom „Kreis unseres Interesses“ und behauptet, es schwäche uns, wenn wir uns um Dinge sorgten, die wir nicht ändern könnten. Petersen rät, „Steh gerade und übernimm Verantwortung, (Rule 1), räume Dein Haus auf, bevor Du die Welt kritisierst (Rule 6) und wichtig „Streichle eine Katze, wenn Du einer auf der Straße begegnest.“ (Rule 12).

    Was sagt uns das über Friedensgebete, Ölspekulationen und Blechschäden? Unsere Probleme sind klein und nichtig. Und es sind doch die Probleme, die wir lösen können und müssen. Ich halte Friedensgebete für selbst verabreichtes Opium, um dem Schmerz etwas entgegen zu setzen. Sie nützen niemandem, außer vielleicht Dir selbst. Friedensmärsche wie der Global March to Gaza“ sind von vorn herein zum Scheitern verurteilt. Noch bevor die Aktivisten ihr Ziel erreicht haben, wurden sie schon verhaftet und deportiert. Selbst Greta Thunberg wurde verhaftet und ausgewiesen. Und während wir noch mit Gaza beschäftigt sind, weitet die Netanjahuregierung in der Operation „Rising Lion“ den Krieg auf den Iran aus. Die israelische Regierung „will den Krieg noch totaler als total“. Sie sucht die „Endlösung“, verdrängend, dass es keine 100%ige Sicherheit geben kann. Ich benutze diese Formulierungen bewusst und im Wissen um ihre Herkunft. Ähnlich wie Tamera den Muehlschatten, schleppt der Staat Israel einen Schatten mit sich herum. Es ist ein Schatten, der zu dunkel ist, um je integriert werden zu können und deshalb wird es wohlmöglich nie Frieden geben. Wer weitere Beweise sucht, der lese schlicht die Berliner Morgenpost 13.06.2025:

    Netanjahu hat vor der Operation „Rising Lion“ einen Zettel in die Klagemauer gesteckt. Die Morgenpost schreibt:

    „Siehe, das Volk wird sich erheben wie ein großer Löwe“, soll dort in Hebräisch geschrieben stehen. Der Satz stammt aus dem Buch Numeri, Kapitel 23, Nummer 24 – und diente wohl der Inspiration für den Namen der Militäroperation. Vollständig heißt es im 4. Buch Mose: „Ein Volk wie ein Löwe, der aufsteht, / wie ein Raubtier, das sich erhebt. / Es legt sich nicht hin, / bevor es die Beute gefressen / und das Blut der Erschlagenen getrunken hat.“

    Wen die psychohistorische Betrachtung nicht überzeugt, der kann sich John Mearrsheimer zuwenden. Der politische Realismus behauptet schlicht, dass die UN und andere internationale Organisationen nur so wirksam sind, wie sie Macht für sich behaupten können. Daneben seien Staaten eben Subjekte, die in den. Grenzen, die durch die Macht anderer Akteure gegeben sind, danach strebten ihre Macht auszudehnen. Kurz. Die Hamas, der Iran und seine diversen Proxy’s haben verloren, ebenso wie die Ukraine wahrscheinlich verloren hat. Wer „Tod oder Freiheit“ in der Auseinandersetzung mit einem überlegenen Gegner wählt, muss und wird sterben.

    Was kann ich tun und was kann ich lassen?

    Ich kann Spekulationen mit dringend benötigtem Treibstoff und Nahrungsmitteln lassen. Ich kann meinem Bruder finanziell helfen, obschon ich keinen Spekulationsgewinn vereinnahmen kann. Ich kann aufrecht stehen, mein Haus in Ordnung halten und versuchen sanft mit meinen Mitmenschen um zu gehen.

    Was kann ich nicht? Ich kann weder Trump noch Netanjahu überzeugen. Ich kann das islamistische Regime im Iran nicht zum Frieden bewegen. Ich kann mich mit Epiktet und Marcus darum bemühen, ein gutes Leben in Dankbarkeit zu führen. Ich kann mein Herz offen halten und die Nachrichten lesen. Vielleicht gibt es tatsächlich Chancen diese Welt zum besseren zu verändern. Rohstoffspekulationen und Friedensmärsche gehören meiner Meinung nach gerade nicht dazu.

  • Tag 10 – Lost in Transition

    Ich wache auf, packe, habe mich für die langsame Variante entschieden. Ein paar Verabschiedungen. Ein einfaches Frühstück und da ist meine Fahrerin. Unterwegs liefert Susanne ein paar weitere Zahlen. Aus 160 Tameranern sind über die letzten 10 Jahre, in denen ja keine dazu kommen konnten, 120 Mitarbeitende geworden. Diese bekommen bislang 200 Euro Taschengeld im Monat. Ich überschlage kurz und komme auf 200*120*12=288.0000 euro. Gut nicht alle brauchten das Taschengeld, aber von den 1.2 Mio Euro sind schonmal ein paar weg. All diese weiteren Schlüsse sind voreilige Daumenrechnungen meinerseits. Die Wirklichkeit kann deutlich davon abweichen. Man arbeite aufgrund der mitlerweile divergierenden Level an Engagement an einem Modell, in dem Menschen im innern der Zwiebel Geld bekämen, während Menschen, die zwar in Tamera leben, sich aber kaum einbringen, eine Art Miete zahlen würden. Kurz und gut, aufgrund von individualistischen Tendenzen, Alter, Krankheit und gemeinschaftsbedingtem Burn Out, bröckelt die intrazwiebuläre Schenkungsökonomie. Meine Befürchtung wäre, dass das Geldthema die Gemeinschaft eher auseinander treibt, als das Thema von Sexualität und Eifersucht. Das hat man hier im Griff. Hoffen wir das beste, denn der Ort, stelle ich mich verabschiedend fest, ist etwas sehr besonderes.

    Am Bahnhof treffe ich Maria und Monica. Sie sind Anhängerinnen von Mooji. Mooji lebt mit seiner Hood in der Nähe von Tamera, ist Jamaikaner und lehrt indischen Advaita Vedanta. Sachen gibt’s. Monica verabschiedet sich. Die etwas unsortiert rührselige Maria aus Deutschland wird durch ihr religiös verstärktes Helfersyndrom leider noch eine Weile an mir kleben bleiben. Nichts ist nerviger, als ein übermotivierter, hilfloser Helfer.

    Irgendwann werde ich sie los, finde mein Hostel mit dem schönen Namen „We hate f*** Tourists“ und lasse meinen Rucksack dort. Erstmal essen. Die Malzeit traditionell Portugiesisch, die Verständigung eher schwierig. Wenn ich schon nicht gucken kann, sollte ich die Sprache sprechen!

    Zum Nachtisch einen Pika – Espresso – und eine Pastel de Nata. Finally! Nach 10 Tagen bin ich in Portugal angekommen. Durch Cola, und Espresso motiviert, entscheide ich trotz Fuß mir Lissabon anzutun. Die Pastéis de Nata stammen ursprünglich aus dem Kloster Mosteiro dos Jerónimos in Belém (Lissabon). Dort haben Mönche sie erfunden, um die Eiweißreste vom Wäschestärken loszuwerden (Eiweiß für Wäsche, Eigelb für den Magen – clever, was?). Und deshalb ist die erste Idee mir das größte Kloster Portugals anzugucken. Hier gäbe es diese Verführung aus Blätterteig und Vanillepudding noch originaler als original. Aber es ist spät, das Kloster weit weg und deshalb verwerfe ich den Plan. Stattdessen fällt die Wahl auf das traditionsreiche Viertel Alfama. Es hat das Erdbeben von 1755 fast unbeschadet überstanden und das Kopfsteinpflaster, die engen Gassen und der allgegenwärtige Fado ergeben auch für mich ein unvergessliches Gesamtkunstwerk…

    Ich schlage mich bis zum Tejo durch und genieße im Sonnenuntergang ein Glas vinho Verde. Dieser Wein ist nicht grün, sondern „grün hinter den Ohren“. Ein junger Weisswein… Wie dem auch sei. Der Wein legt einen wunderbaren Sepiafilter über alles. Gerade soviel, dass die Umgebung etwas surrealistisch wirkt, aber nicht soviel, dass meine analytischen Fähigkeiten eingetrübt werden.

    Ich muss mal kurz etwas einwerfen. Schon vor 80 Jahren spekulierte Saint-Exupéry, dass einmal Mensch und Maschine verschmelzen. Er sitzt in einem offenen Flugzeug, um bessere Sicht zu haben. Er überquert die Alpen und die Hände am Steuerknüppel werden so kalt, dass sie die Befehle seines Gehirns nicht mehr ausführen. Er hat ein motorisches Problem. Sieht aber, dass die Menschmaschineinteraktion besser werden wird, weil sie besser werden muss. Er geht sogar soweit zu glauben, dass die Grenze irgendwann verschwimmen wird. Wohl weil er mit den vor Kälte gefühllosen Händen die Grenze zwischen Hand und Knüppel nicht mehr fühlt.

    Ganz ähnlich rieche und lausche ich, fühle mit den Füßen, während mein Geist, aus der Geodatenbank von Foursquare, Google Maps Anweisungen, magnetometrischen Kompassinformationen, Wikipediaeinträgen, dem passenden Fado von Spotify und dem ständig im Hintergrund laufenden Dialog mit GPT ein Gesamtbild konstruiert, das ob des Reichtums an Hintergrundinformationen eine emotionale Tiefe bekommt, die ich so vorher noch nicht erlebt habe. Es ist eine Augmented Reality auch wenn das Interface noch relativ primitiv ist. Sollten Projekte wie Neuralink einmal wirklich einen Datenaustausch zwischen zellulären und maschinellen Netzwerken ermöglichen, wäre ich der erste, der diesen sechsten oder eben fünften Sinn ausprobierte.

    Ich finde die berühmte Tramm 28. Nostalgisch, mit offenen Fenstern, Holzboden und einem Menschmaschineinterface, das klappert, wann immer der Fahrer bremst oder Gas gibt. Der Heimweg gerät ob der spätabendlichen, wirklich penetranten, Hilfswütigkeit portugiesischer Wohnungsloser eher zum Spießrutenlauf mit einer Hand in der Tasche. Ich komme Heim, finde einen überaus hilfreichen Hostelier und freue mich über Dusche und Bett.

    Nach 12 Kilometern auf gebrochenem Fuß habe ich ein neues Motto:

    Teufel komm‘ raus und leck‘ mich am Arsch. Meiner ist der geilste!

  • Tag 9 – Zahlen bitte

    Als ich aufwache fällt mir ein, dass ich ein bemerkenswertes Erlebnis vergessen habe zu schildern. Stell Dir vor, Du bestellst Kaffee und Kuchen. Dann fragst Du „quanto custo“ laut GPT wirklich mit „u“ und die Antwort lautet: „5 bis 10 Euro“. Ich habe nur einen 10er, finde das aber zu teuer und will noch ein Eis haben. Der Preis erhöht sich auf 8 bis 16 Euro. Dann bin ich mit zehn einverstanden. Diese Art von Aushandlung gefällt mir.

    Die Morgenveranstaltung dreht sich denn auch um Beitragsökonomie. Kurz, der Kapitalismus sei sehr neu und sowohl Mensch und Natur liebte es, sich zu verschenken. Brav gesprochen Benjamin. Desweiteren einige wenige konkrete Zahlen. Um die Strukturen am Laufen zu halten braucht Tamera ca 1.2 mio Euro/Jahr. 0.8 mio Euro bringt eine Gästesaison ein. Ein Teil deckt dann der noch nicht auf 1.000 Menschen angewachsene Förderkreis ab. Wenn also 1.000 Menschen 1.2mio-0.8mio Euro = 400.000 Euro spenden sollen, machte das ca €33/Monat/Nase.

    Im Innern der Zwiebel, bemüht Sarah das Bild basiere der Kreislauf auf purer Schenkungsökonomie. Will sagen, wann immer jemand aus der Gemeinschaft mehr brauchte, als das kleine Taschengeld, schriebe bspw. Robert keine Rechnung für Gärtnerei, sondern bitte darum und es würde ihm gegeben. Je weiter nach außen man sich auf den Zwiebelringen bewege, desto mehr Berührung habe man mit der Main Stream Marktwirtschaft. Im Grunde nicht anders als bei uns zu Hause denke ich und dann noch… Ich würde auch gern acht Monate bei gutem Wetter das tun, was ich wirklich mag, um im Winter vom Förderkreis getragen zu werden. Dass aber dies kein Wirtschaftsmodell für den ganzen Planeten sein kann, dürfte einleuchten. Oder springt im Winter dann ähnlich wie bei der Sauerstoffbereitstellung durch Photosynthese, der vielbeschworene „globale Süden“ ein?

    Ironie beiseite. Gestern habe ich den erotischen Markt aus biologischer Perspektive beleuchtet. Wenn aber, Konkurrenz und Marktwirtschaft, eben jene Dominanzhierarchien hervorbrächte, die Jordan Petersen in „twelve Rules for life“ so schön am Beispiel in der Tiefsee lebender Hummer verdeutlicht, dann wäre der Kapitalismus nur die Fortsetzung des Neurobiologisch evolutionär tief verdrahteten „The winner takes it all.“ Microsoft und Apple teilen den Markt für Betriebssysteme unter einander auf, Google und Apple wiederum den Handymarkt und sofort. Es gäbe gute und weniger gute biologische Nieschen, die von konkurrierenden Männchen besetzt würden. Die die Hauptlast der Reproduktion tragenden Weibchen wählten dann schlicht die Dominanten Männchen aus, um der nächsten Generation die besten Startbedingungen zu sichern. Wie man diese tiefe biologische Gesetzmässigkeit mit dem Mathäusevangelium oder eben dem heiligen Eros bzw. der Schenkungsökonomie in planetarer Größenordnung in Einklang bringen könnte, ist eine Frage, die mich seit Jahren umtreibt.

    Daneben werden in der Morgensession die Projekte vorgestellt, die Geld benötigen. Da wären Hunderettung, Schule/Kindergarten, Gazahilfe und Pilgerreise nach Gaza, Renovierung der Bodega und die Landschafts- und Bauentwicklung. Die letzten zehn Jahre hat Tamera keine neuen Mitstreiter aufgenommen, auch weil lange keine neuen Häuser gebaut werden durften. Zu sehr fürchtete die ansich wohlwollende Administration der Region, dass andere dem Beispiel folgend, einen Bauernhof mit 160 Leuten bevölkern könnten, um ein Dorf draus zu machen. So hat man sich wohl fast darauf geeinigt, eine Ebene drunter eine „Ansiedlung“ zu verbriefen. Das gäbe nach weiteren 80.000 Euro Notar- und Gerichtskosten wiederum die Möglichkeit, Häuser für viele Millionen Euro zu bauen. Naja. Wie sagte ein befreundeter Architekt mal zu mir. Die Wünsche wüchsen im Prozess und das sei gut für ihn. Ich spüre Wohlwollen und höre auch die Stimme, die mir sagt, wenn ich einen Wintergarten haben will, muss ich auch dafür zahlen. Aber Dein Mind Set Jeronimo.

    An diesem Tag fühle ich mich etwas einsam. Die Nachmittagssession geht mit Visionen so dahin, ohne dass jemand zum Arzt ginge. Einige junge Erwachsene wünschen sich hier zu leben und dafür eine überwucherte Ruine zu renovieren. Bei einem ursprünglich linksrevolutionären Projekt kann ich nicht anders: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Ob sich tamera der Zukunft zuwenden wird? Es ist wahrscheinlich und steht zu hoffen. Diese Zukunft wird diverser, weniger Deutsch, individualistischer und auch in Fragen von Partnerschaft und Familie weniger kollektivistisch werdenSoviel meine ich nach meinen Gesprächen herausgefunden zu haben. Ob dies aber den Kern der Vision soweit veränderte, dass er nicht mehr treu im Geiste wäre, müssen die älteren mit den jüngeren klären.

    Abends gibt’s Pizza aus dem Steinofen. Wahrlich. 150 Pizzen aus dem Steinofen. Hut ab!

    Was habe ich gelernt? Der Abschlusskreis vorüber, die Pizza gegessen…

    Ich liebe es in der Natur zu sein, Sex ist nicht wirklich mein Thema, besonders dann nicht, wenn ich die zahllosen Komplikationen und das damit verbundene Leid berücksichtige. Ich kann wunderbar mit mir alleine sein und in großen Menschenmengen verliere ich mich bisweilen und die Übersicht gleich mit. Ich war gerne hier und bin gerne wieder zurück, bei meinem viel kleineren Stamm.

  • Zusatzeintrag – Deep Research zu Otto Muehl und Dieter Duhm

    Um meine Thesen aus dem Eintrag „Zen, Apokalypse und der Tanz des Lebens zu überprüfen, habe ich Chat GPT mit einer Deep Research zur Verbindung von Muehl und Duhm beauftragt. Vergessen sei nicht, dass generative, künstliche Intelligenz Fehler machen und haluzinieren kann. Im folgenden meine Prompt, die Nachfrage des Systems, meine Antwort und schließlich der Bericht: Natürlich interessierte mich auch ein Test der Fähigkeiten künstlicher Intelligenz zur Analyse und Synthese multipler Informationsquellen. Wer an KI-generiertem Kontent nicht interessiert ist, oder wem die Historie des Projekt gleichgültig ist, der findet unter diesem Artikel den Bericht zu Tag ü – „Openspace“.

    Kläre das Verhältnis von Dieter Duhm zu Otto Muehl. In welchem Maß hat Duhm muehlsche Ideen übernommen. Insbesondere „freie Sexualität“ „Gemeinschaftseigentum“ „Selbstdarstellung“ „Gemeinschaftskinder“ „Dekonditionierung“ „Bruch mit traditionellen Familien“. In wie weit standen der Friedrichshof und die Aktions analytische Organisation A.A.O. Pate für das Experiment Bauhütte bzw. das ZEGG – Zentrum für Experimentellle Gesellschaftsgestaltung. In wie weit hat Duhm sich distanziert und hat er ihn bewundert oder kritisiert? Versuche eine ausgewogene sachliche Darstellung.

    Danke für die präzise Frage. Um die Recherche möglichst gründlich durchzuführen, könntest du bitte noch Folgendes klären:

    1. Zeitraum : Soll die Analyse sich auf die Entstehungsgeschichte des ZEGG in den 1990er Jahren konzentrieren, oder auch spätere Entwicklungen (z.B. Duhms Projekte in Tamera, Portugal) einbeziehen? 2. Quellentypen : Möchtest du vorrangig Aussagen aus wissenschaftlichen Veröffentlichungen, autobiografische Texte oder Presseberichte? 3. Tiefgang : Soll ein Überblick genügen oder wünschst du eine tiefere ideengeschichtliche Analyse der Parallelen und Differenzen zwischen Muehl und Duhm? Das hilft mir, die Auswertung möglichst präzise und ausgewogen zu gestalten.
    1. Bitte die gesamte Historie, inklusive Bauhütte, ZEGG Tamera.
    2. Wissenschaft und Autobiographische Quellen vorrangig. Presse nur da, wo sie nicht voreingenommen, reisserisch und quasi ausschließlich negativ berichtet. 3. Ich brauche soviel analytische Tiefe wie möglich! Die groben Details kenne ich. Erstelle einen flüssig lesbaren Artikel/Bericht.

    Historischer Hintergrund und zentrale Akteure Otto Mühl war ein österreichischer Aktionskünstler und 68er-Protagonist, der mit der Aktionsanalytischen Organisation (AAO) die Friedrichshof-Kommune gründete. Er ließ sich stark von Wilhelm Reich inspirieren. Mühls Ziel war eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft durch „freie Sexualität“ und Kollektivität : Er strebte die Abschaffung der Kleinfamilie und des Privateigentums an, um eine „anti-gesellschaftliche“ Kommune zu schaffen   . 1972 rief er die Kommune Friedrichshof ins Leben, deren erklärtes Ziel die „Zerstörung der bürgerlichen Ehe und des Privateigentums, (…), freie Liebe und gemeinsame Erziehung der Kinder“ war  . In der AAO herrschten strenge Hierarchien, und Mühl praktizierte eine organisierte Form der Entpanzern (Reichscher Körperselbsttherapie) sowie ein System gemeinschaftlicher Kindererziehung   . Dieter Duhm (geb. 1942) ist ein deutscher Soziologe und Psychoanalytiker, der in der 68er-Bewegung aktiv war. 1970 veröffentlichte er „Angst im Kapitalismus“ , in dem er politische Revolution mit individueller Befreiung verband. 1975 startete er ein dreijähriges Sozialexperiment mit 40 Teilnehmern, aus dem Ideen wie „freie Liebe“ und „spirituelle Ökologie“ hervorgingen  . Ab 1978 führte Duhm das Kommuneprojekt „Bauhütte“ (Schwand, Süddeutschland) durch und war später Gründungsimpulsgeber für das Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG) (1991) und das Tamera Heilungsbiotop (1995) in Portugal. Ziel Duhms war die Schaffung einer friedlichen, gemeinschaftlichen Lebensform jenseits kapitalistischer Gewalt. Ideen und Praktiken bei Otto Mühl (AAO/Friedrichshof) Otto Mühl propagierte eine kompromisslose Sexualrevolution und kollektive Lebensweise. In der AAO galt freie und gemeinschaftliche Sexualität als Befreiungsweg. Mühl verbot in der Praxis intime Beziehungen außerhalb der Kommune und führte täglich wechselnde „Ficklisten“ ein, um individuelle Partnerschaften zu verhindern. Er betrachtete organisiertes Ausleben sexueller Lust als Gegenmittel gegen seelische Panzerung  . Gleichzeitig setzte er auf kollektiven Besitz: Alle Mitglieder mussten ihr Vermögen der Gemeinschaft übergeben, denn es sollte laut AAO „kein anderes Eigentum als Gemeineigentum“ geben   . Kinder, die in der Kommune geboren wurden, galten als Gemeinschaftskinder und wurden gemeinsam erzogen   . Mühl war selbst die „Autorität“ über Ehe und Nachkommenschaft: 1988 heiratete er im Friedrichshof seine „erste Frau“ und bestimmte sogar, wer Kinder bekommen durfte  .

    Diese radikalen Konzepte dienten bei Mühl dazu, traditionelle Familienstrukturen zu zerbrechen . Die bürgerliche Ehe und Kleinfamilie betrachtete er als Ursache sozialer Verkrampfungen, die es durch die „Zerstörung“ zu überwinden galt  . Insgesamt war Mühls FS-Kommun e stark hierarchisch und autoritär organisiert  . Nachdem in den 1980er Jahren immer wieder Missbrauchsvorfälle bekannt wurden, wurde Mühl 1991 wegen sexuellen Missbrauchs zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Dieter Duhm: Bauhütte, ZEGG und Tamera Dieter Duhm entwickelte seine Projekte vor dem Hintergrund der 68er- und Umweltbewegung. 1978 gründete er die Bauhütte (Schwand) , ein „soziales Experiment“, in dem Gruppenprozesse in den Bereichen Macht, Geld, Sexualität und Liebe erforscht wurden  . In den Anfangsjahren waren dort etwa 40–50 Menschen. Die Bauhütte war ein erster Prototyp eines neuen Gemeinschaftslebens: Es wurde viel Wert auf Offenheit, Forum-Kommunikation und persönliches Wachstum gelegt. Duhm betonte, dass er „zuerst“ aus der Erfahrung mit der AAO die Methode des Forums entwickelte (vgl. unten)  .

    1991 eröffnete Duhm das ZEGG bei Berlin , ein Seminarhaus und Modellprojekt. ZEGG verfolgt bis heute die Erforschung von Liebe, Partnerschaft und transparenter Kommunikation. Ursprünglich stand auch hier der Gedanke „freier Liebe“ im Zentrum: Paarbeziehungen sollten offen sein, Eifersucht thematisiert und durch das Forum verarbeitet werden   . In den 1990er Jahren wuchs die ZEGG-Gemeinschaft; sie praktizierte Konsens-Entscheidungen und gemeinschaftliche Projekte. 1995 gründete Duhm mit Sabine Lichtenfels das Tamera Heilungsbiotop in Portugal. Tamera verfolgt ähnliche Ziele wie ZEGG (friedvolle Gemeinschaft, alternative Technologie) mit stärkerem Fokus auf Ökologie und spirituellem Frieden   . In allen Projekten Duhms spielten Begriffe wie freie Liebe , soziale Transparenz und persönliche Heilung eine große Rolle   . Übernahme und Abgrenzung: Duhm versus Mühl Dieter Duhm hat Mühl und die AAO einerseits als geistige Inspiration betrachtet, andererseits sich gezielt von deren übergriffigen Methoden distanziert. Bereits 1993 nannte Duhm Otto Mühl einen „Ideengeber“ für die Gemeinschaftsprojekte  und beschrieb die AAO als eines der „wichtigsten Gemeinschaftsexperimente unserer Zeit“  . Zugleich betonte er aber, dass er die Bauhütte gerade als Alternative zum Friedrichshof ins Leben rief  .

    Inhaltlich übernahm Duhm zentrale AAO-Konzepte, wandelte sie jedoch ab: Beim Thema freie Sexualität etwa stützte er sich auf Mühls Idee, dass sexuelle Freiheit gesellschaftliche Ängste lösen kann. In einem frühen Text sagte Duhm, man lasse sich von AAO-Konzepten der „freien Sexualität“ befruchten  . Im Forum-Bauhütte-ZEGG-Setting wurde deshalb offen über Partnerschaft und Eifersucht diskutiert. Duhm sah „freie Liebe“ aber immer als Teil eines liebevollen Miteinanders: Er kritisierte, dass Mühl in der AAO die Liebe ausklammerte und freie Sexualität lediglich als Anti-These zur Zweierbeziehung verstand  . Duhm forderte hingegen, Sexualität müsse mit Vertrauen, Liebe und Partnerschaft verbunden sein.

    Beim Gemeinschaftseigentum weicht Duhm von Mühl deutlich ab. Die AAO hatte einst jegliches Privateigentum abgeschafft  , während in Duhms Projekte lediglich eine gemeinsame Ökonomie praktiziert wurde. So zahlt beispielsweise jedes ZEGG-Mitglied heute eine Miete an die ZEGG-Gemeinschaft, lebt aber weiterhin im Grunde mit eigenem Hab und Gut (private Besitzanteile und Partnerschaften)  . Duhm verzichtete also nicht grundsätzlich auf Privateigentum, sondern organisierte Finanz- und Wirtschaftsfragen weitgehend gemeinschaftlich.

    Ein zentrales Element war die Selbstdarstellung (Gruppen-Therapie). Mühl führte in der AAO die „Aktionsanalyse“ ein, bei der sich Menschen in brutalen Selbsterfahrungs-Sitzungen entpanzerten. Duhm übernahm diese Idee in gemilderter Form: In der Bauhütte entwickelte er das Forum , eine Ritualform des offenen Austauschs, die stark dem Psychodrama ähnelt   . Die ZEGG-Gemeinschaft bestätigt heute, dass sie das AAO-Verfahren der Selbstdarstellung übernommen hat – allerdings „mit klarer Ausrichtung auf gewaltfreie und empathische Verständigung“ unter Erwachsenen  . So fand die Konfrontationstherapie in Duhms Projekten eine humanisierte Weiterentwicklung (Verzicht auf pauschale Schuldzuweisungen, abgewandelte Regeln).

    Bei der kinderzentrierten Erziehung gab es einen Bruch: Mühl praktizierte in Friedrichshof kollektive Kinderaufzucht (Kinder galten als Gemeinschaftskinder) und zerschlug elterliche Bindungen. Duhm hingegen betonte stets den Schutz von Kindern und distanzierte sich klar vom FS-Modell. Das ZEGG veröffentlichte 2013 eine Stellungnahme, die ausdrücklich besagt: Sexuelle Handlungen mit Kindern wurden nie geduldet, und jeder sexuelle Missbrauch an Kindern war stets zu bekämpfen  . Nach Duhm und den ZEGG-Gründer*innen war der autoritäre Umgang mit Kindern im Friedrichshof mit ihrer Vorstellung einer liebevollen Kultur unvereinbar  . Damit wies Duhm die Mühl’sche Vorstellung kollektiver Kindererziehung zurück.

    Unter dem Schlagwort Dekonditionierung (Aufbrechen psychischer Panzer) werden bei beiden Begründungen deutlich vom Reichschen Körperansatz geprägt. Auch Duhm übernahm die Idee der Auflösung emotionaler „Charakterpanzer“: Er schreibt vom Dissolving the character armour als notwendigem Schritt zur neuen Kultur   . In Duhms Blickwinkel ist das Lösen innerer Blockaden durch emotionale Reinigung entscheidend für persönliches Wachstum. Ähnlich strebte Mühl durch „Ausagieren“ die Befreiung von unbewussten Ängsten an. Duhm nutzte also Reich’sche Therapieelemente wie Mühl, setzte sie aber mit eigenen Schwerpunkten (Forum statt Aktionsanalyse) ein.

    Schließlich der Bruch mit traditionellen Familienstrukturen : Mühl propagierte ausdrücklich die Abschaffung der Kleinfamilie  . Duhm verfolgte dieses Ziel nicht mit derselben Vehemenz – dennoch sind seine Konzepte familienrevolutionär. In Duhms Gemeinschaften werden herkömmliche Bindungen aufgelockert. Im ZEGG existieren viele Paarbeziehungen, die jedoch „weder ausschließlich noch monogam“ sind  . Es geht darum, Liebe nicht sofort zu definieren oder einzusperren  . Damit wird gewissermaßen mit dem tradierten Familienbild gebrochen, wenn Liebesbeziehungen offen und kollektiv verhandelbar werden. Im Gegensatz zur autoritären Emanzipation bei Mühl bleibt hier aber die Liebe selbst selbstbestimmt und respektvoll. A.A.O. und Friedrichshof als Vorbilder (und Gegenmodell) In der Gründungsphase von Duhms Projekten spielte die AAO eine ambivalente Rolle. Duhm selbst besuchte Ende der 1970er Jahre wiederholt den Friedrichshof. Er räumt ein, dass er sich von AAO-Konzepten der Selbstdarstellung, freien Sexualität und kommunitären Lebensweise „befruchten“ ließ  . So entstand 1977 im Friedrichshof das erste Konzept für ein „ZEGG“ (zugleich ein Versuch, die AAO gesellschaftsfähig zu machen), das Mühl aber ablehnte  . 1978 zog Duhm sich von der AAO zurück: In seinem Rückblick formulierte er Kritik an der absolutistischen Führungsstruktur des FS  .

    Trotzdem bekennt Duhm auch später immer noch, dass er vom AAO-Experiment viel gelernt hat. In seinen frühen Texten lobte er Otto Mühl als „einzigartigen Beitrag“ für eine „humane Zukunft“ und bezeichnete ihn gar als einen der „wichtigsten Vorläufer der neuen Epoche“  . In seinem Buch Synthese der Wissenschaft (1979) widmete Duhm Mühl liebevoll und zählte ihn – neben Rudolf Steiner und Wilhelm Reich – zu seinen prägenden Vordenkern  . Dieses anfängliche Lob steht im Kontrast zu späteren Distanzierungen. Die heutige ZEGG-Gemeinschaft stellt klar, dass sie keine Nachfolgeorganisation der AAO ist  : Man verurteilte die patriarchale Struktur des Friedrichshofs und nimmt Mühls sexuelle Gewalt klar distanziert zur Kenntnis  .

    Strukturell übernahm Duhm dennoch einzelne Elemente. Besonders wichtig war das psychotherapeutische Gruppenformat: Die ZEGG-Stiftung bestätigt, dass die Selbstdarstellung aus dem FS-Kontext einfloss, nun aber in ein gewaltfreies Forum umgestaltet wurde  . Auch die Vorstellung von einer ökologisch-autarken Kommune – Erd- und Energieselbstversorgung – weist Parallelen auf, wenngleich Tamera ihr Konzept unter anderem mit New-Age-Begriffen wie „morphischen Feldern“ verbindet. Insgesamt kann man sagen: Friedrichshof und AAO dienten Duhm als Inkubator von Ideen , aus dem er das Positive adaptierte und die negativen Entwicklungen bewusst ablehnte. Durch die Gründung der Bauhütte suchte Duhm explizit, einen alternativen Weg zum FS zu gehen  . Vergleich der Schlüsselkonzepte • Freie Sexualität: Mühls AAO propagierte extreme sexuelle Offenheit (auch regelbasierte Partnerwechsel) als Befreiung von Konventionen. Duhm übernahm die Idee der „freien Liebe“  , verband sie aber mit Liebe und Bewusstsein. Er kritisierte das FS-Gebot, dass nur Kommuneinsassen Sex haben dürften, als „fatale Sexualgesetze“  . In ZEGG und Tamera wird Freie Liebe gelebt, aber immer in Dialog und Gewissheit: Es wird über Eifersucht geredet, das Forum dient der Reflexion   . Duhm betont, dass die Partnerschaft nicht aufgegeben, sondern offen gestaltet wird.
    • Gemeinschaftseigentum: Die AAO schaffte 1970er Jahre Privateigentum ab – alles Geld und Besitz gehörte der Kommune  . Duhm hingegen verlangte von seinen Mitgliedern nicht, ihr Privatvermögen zu übertragen. In ZEGG existiert eine gemeinsame Ökonomie (z.B. Seminargesellschaft), aber individuelle Besitzansprüche bleiben bestehen  . Es gibt gemeinschaftlich geführte Betriebe, doch Wohnraum wird von der Gemeinschaft vermietet, und jeder Zeggler kann auch persönliche Einkünfte und Privateigentum haben.
    • Selbstdarstellung/Forum: Mühl führte in der AAO die „Aktionsanalyse“ (brutale Konfrontation) ein. Duhm adaptierte diese Praxis als Forum , eine ritualisierte Gesprächsform   . Bei der Bauhütte half das Forum, Konflikte transparent zu machen. Im ZEGG wird die psychodramaähnliche Selbstdarstellung weiterhin eingesetzt, jedoch in einem Rahmen ohne Gewalt und ohne Hierarchien  . Damit ist die Gruppenarbeit humanistischer als im AAO-Modell.
    • Kindererziehung: Mühl propagierte gemeinschaftliche Kindererziehung und griff pädagogisch massiv in Eltern-Kind-Beziehungen ein. Bei Duhm gibt es keine entsprechenden Praktiken. Im Gegenteil: ZEGG und Tamera haben strikt betont, dass jede sexuelle Handlung mit Kindern unerwünscht ist  . Es gibt zwar Kinder in den Kommunen, doch diese werden meist in kleinen Gruppen oder von Angehörigen erzogen – nicht nach den allumfassenden Regeln des FS. Die ZEGG-Gemeinschaft stellt klar, dass der autoritäre FS-Stil mit Kinder-Kult „absolut unvereinbar“ ist mit ihrer freien Liebeskultur  .
    • Dekonditionierung: Sowohl Mühl als auch Duhm griffen Reichs Theorie von der panzerartigen Charakterstruktur auf. Mühl wollte durch ekstatische Aktionen psychische Panzer brechen. Duhm spricht explizit von der Auflösung des Charakterpanzers , z.B. durch intensive emotionale Prozesse  . In seinem Werk betont Duhm, dass ein neues, humanes Zusammenleben ohne das „Dissolving the character armour“ nicht möglich sei  . Die Betonung liegt bei Duhm dabei oft auf sanfter Transformation (z.B. im Forum) statt auf dem Einbruch, wie es im AAO-Setting passierte.
    • Familienstrukturen: Mühl wollte die klassische Ehe zerstören  . Duhm verfolgt kein derart aggressives Familienbild, bricht aber bewusst mit gesellschaftlichen Normen. In Duhms Utopie der Heilungsbiotope spielt die Idee einer gemeinschaftlichen Liebeskultur ohne Eifersucht eine zentrale Rolle   . Monogame Kleinfamilien sind in den Projekten zwar nicht verboten, aber meist freiwillig und reflektiert; viele Partner leben gemeinsam, bleiben aber offen für weitere Kontakte   . Damit reproduzieren Duhms Gemeinschaften die autoritäre Familienordnung nicht, gehen jedoch behutsamer mit den Bedürfnissen der Menschen um als Mühl es tat. Zusammenfassung Dieter Duhm stand Otto Mühl und der AAO ideengeschichtlich näher als es manchem Gegenspieler lieb ist: Er sah sie als bahnbrechende Experimente und übernahm beispielsweise Ideen zu freier Sexualität und therapeutischer Gruppenarbeit   . Allerdings zog er aus den Erfahrungen klare Konsequenzen. Er distanzierte sich von der rigiden Hierarchie und von jeglicher Gewalt oder Kindesmissbrauch, die im Friedrichshof vorkamen   . Duhms Kommunen verfolgen die utopischen Grundideen einer liebevollen, ökologisch autonomen Gemeinschaft – aber unter selbstkritischen Voraussetzungen. AAO und Friedrichshof fungierten für Duhm nicht zuletzt als Gegenbilder und Ideengeber: Er gründete die Bauhütte bewusst als Alternative zum Friedrichshof  , übernahm bestimmte Elemente (wie Selbstdarstellung) und lehnte andere (Hierarchie, Partnerschaftsverbote) ab.

    Bis heute bezieht sich Duhm zwar positiv auf Mühls radikale Gesellschaftskritik, aber er betont zugleich, dass ZEGG und Tamera grundlegend andere Gemeinschaftsformen suchen: frei von Autoritarismus, mit transparenter Kommunikation und einem emphatischen Verständnis von Sexualität . So lassen sich Ideengeschichte und Praxis von Duhm als differenzierter Dialog mit Mühl interpretieren – geprägt von Übernahme, Anpassung und klarer Abgrenzung, entlang der von beiden genannten Konzepte. Quellen: Primärquellen aus Duhms Schriften und ZEGG-Dokumenten sowie wissenschaftliche und sachliche Darstellungen zu AAO und Duhm wurden herangezogen. Beispielsweise fasst der ZEGG-eigene Geschichtsstext Duhms Abkehr von Mühls Führung sowie die Übernahme ausgewählter Methoden zusammen ; Zeitzeugeninterviews illustrieren Duhms Konzept der freien Liebe ; und Lexikonartikel fassen Mühls Programm in Friedrichshof zusammen . All dies untermauert das oben Dargelegte.

  • Tag 8 – Open Space

    „Der heilige Gral des Mannes ist der Schoß der Frau.“. Frei zitiert. Dieter Duhm.

    Ich komme ob meiner Verpflichtung gegenüber meinen Leserinnen knapp zum Frühstück. Doch das Glück ist mir gewogen und schenkt mir die Gesellschaft zweier Frauen, die ich nun definitiv auf meine F***liste muehlscher Fasson gesetzt hätte, wäre ich Otto der Große in diesem System. Louise ist eine wirklich wohlgestaltete Britin, die mal Software verkauft hat und sowohl in Erscheinung als auch stimme die besten Voraussetzungen dafür mitgebracht haben dürfte. Susan dagegen ist deutsche Wahlschweizerin, die so gut Englisch spricht, dass ich nie auf die Idee gekommen wäre, mit ihr Deutsch zu sprechen. Sie wirkt jünger als sie ist, ist geistig ziemlich beweglich und hat früher mal in Berg- und Forstwirtschaft promoviert. Immer wieder bin ich begeistert über die Talente, die hier zusammen kommen.

    Nachdem ich die Standardfragen – Blindheit, Fuß, Familienkonstrukt abgefrühstückt habe, sage ich deutlich, ich verstünde wohl dass man von jemandem, der ein drittes Ohr auf der Stirn trüge, als erstes Wissen wolle, wie lange er es habe, warum und woher und ob es weh tue und natürlich, ob er nun besser höre. Dieser vorgestellte Mensch habe im Hintergrund eine reiche Persönlichkeit, die durch dieses prominente Merkmal oft nicht bemerkt würde. Mein Vergleich bringt mir Sympathie, Verstehen und das helle Lachen zweier Frauen ein. Das Gespräch wendet sich, wie so oft der Sexualität zu. Hier wiederholt sich ein Muster. Die beiden Frauen experimentierten zwar gerne, suchten aber eigentlich eine Partnerschaft mit tiefer Vertrautheit. Für mein Familienkonstrukt bekomme ich ein paar Ohs und Ahs. Ich biete an, die Teller der Lads zu spülen und habe auch hier das Überraschungsmoment auf meiner Seite. „Ein Blinder, der etwas für mich tut.“

    Anschließend mache ich mich auf eine meiner langen, langsamen Wanderungen… Unterwegs nimmt mich Maike in Birgas Elektro-Car mit. Das entweder sehr kurze oder rechts hochgeschlitzte Kleid gibt etwas Bein frei. Sie ist im Termindruck. Ich steige aus und frage mich, ob das früher oder heute diese spontan/animalische Begegnung hätte werden können. Egal. Wenn ich schon keine Frau erobern will, dann eben die Landschaft. Diesen stillen, heiligen Ort.

    Auf meiner Suche nach der Gralsburg/dem Steinkreis versagt das GPS wieder kläglich. Ich versuche es ohne Technik und sperre meine Ohren auf, rieche und taste mit Füßen und Stock. Es öffnet sich kein Weg. Vom Heulen eines einsamen Underdogs weiss ich, wo der Steinkreis liegen müsste und laufe denn noch drum herum. Das Buschwerk öffnet sich nicht. Der heilige Schoß bleibt verschlossen. Du bist zu früh, die hundert Jahre sind nicht um. Dornröschen schläft noch. Das Schößchen in Hößchen. Für Dich gibt’s nur Dornen. Der Aircast wird in seinem Schaumstoff soviel Pflanzenmaterial aufsammeln, dass ich beim Chirurgentermin etwaige Fragen werde beantworten müssen.

    Ich entscheide mich für den Weg, den alle frustrierten Männer wählen, wenn Technik, Intuition und Geduld nicht zum Ziel führen. Mit Louise und Susan sprach ich noch davon. Einige Männer kriegen den Großteil der Frauen ab, der große Rest geht leer aus und wird, um die Frauen und Kinder der Top Dogs zu schützen und wegen seiner Frustration aufhetzbar, als Soldat verheizt. Wenn wir den Krieg beenden wollen, müssen wir, da ist es wieder, dafür sorgen, dass auch die von der Evolution Ausgelesenen Underdogs, die Wärme einer weiblichen Umarmung, die Weichheit der Brüste, die Zärtlichkeit der Lippen und das Umschlossensein im Schoß erfahren können. Andernfalls wird aus ihrer sexuellen Kraft, die steife Ausrichtung eines Gewehrlaufs. Die Männer wiederum könnten, wenn der Konkurrenzkampf weicher würde, Brüderschaft ohne Angst und Eifersucht haben. Das Weib wäre für alle da und der Krieg unter Männern wäre beendet. dazu aber müssten wir etwas in einer „koherenten Gruppe“ etablieren, dass den Gesetzen Darwins grundlegend zu wider liefe. Dawkins beschreibt die Natur in seinem legendären Werk „Das egoistische Gen“ als „Zähne und Klauen, rot wie Blut“. In River out of Eden eröffnet er das vierte Kapitel wie folgt:

    „Die Gesamtmenge an Leid pro Jahr in der natürlichen Welt übersteigt jede anständige Vorstellungskraft. Während der Minute, die ich brauche, um diesen Satz zu schreiben, werden Tausende von Tieren bei lebendigem Leib gefressen, viele andere rennen um ihr Leben, wimmern vor Angst, andere werden langsam von innen durch raspelnde Parasiten verzehrt, Tausende aller Art sterben an Hunger, Durst und Krankheit. Es muss so sein. Wenn es jemals eine Zeit des Überflusses gibt, wird dieser Umstand automatisch zu einem Bevölkerungsanstieg führen, bis der natürliche Zustand von Hunger und Elend wiederhergestellt ist.“ „In einer Welt voller blinder physikalischer Kräfte und genetischer Replikation wird etwas Leid erleiden, etwas wird verletzt werden, etwas wird getötet werden. Und das ist alles. Es gibt keine Absicht dahinter, kein Böses und kein Gutes, nichts als blinde, erbarmungslose Gleichgültigkeit.“

    Diese Passage illustriert die unerbittliche Realität der natürlichen Selektion, wie Dawkins sie beschreibt und macht deutlich, dass wir nicht nur den männlichen Konkurrenzkampf, sondern auch die weibliche Auslese überwinden müssten. Ob Dieter Dawkins gelesen hat? Daneben müssten wir, Dawkins folgend, die Population begrenzen, um den Kampf um Ressourcen unnötig zu machen. Wir müssten weiter, die Gier der Menschen stillen, durch die Erfahrung von Eros, Gemeinschaft, Geborgenheit und Freude. Wir müssten den Kapitalismus überwinden und den Eros von all seinen evolutionären Zwängen befreien, um ihn zu einer revolutionären Kraft zu machen. Junge Männer müssten freiwillig, wer Widersprüche findet, darf sie behalten, mit älteren, verletzten, unfruchtbaren, weniger attraktiven Frauen schlafen. Ebenso müssten Frauen, den Benachteiligten, die sexuelle Befriedigung zu kommen lassen, derer sie bedürfen. Kurz. Wir müssten, ganz freiwillig aus Nächstenliebe vögeln.

    Der Eros in seiner Wildnatur aber ist präzise und gnadenlos. Optisch prüfen Weibchen die Muskelfettverteilung und somit die metabolische und physische Fitness, akustisch wird die Stimme auf Erkrankungen des Atemssystem gescannt, die Nase rastert gerade zum Zeitpunkt der Empfängnisfähigkeit das Imunsystem und schließlich wird im Gespräch geklärt, wieviel Gehirn sich der Mann zu unterhalten leisten kann. Mithin wird sein Jagterfolg deutlich.

    Wenn wir den Krieg durch freie Liebe beenden wöllten, müssten wir Mutti Natur, soviel Bewusstheit und Menschenformung in die Suppe spucken, dass daraus ein kommunitärer Eintopf würde, den zu rühren es einer Menge Kreise bedürfte. Ob die Zeit dafür da wäre, weil man sich entschiede, weniger zu Arbeiten und aus dem kapitalistischen Hamsterrad auszusteigen? Der Erschöpfungszustand mancher Kommunaden und die immer wieder prekäre finanzielle Situation verdeutlichen, welche Kraftanstrengung ein solches Projekt erfordert.

    Ich jedenfalls habe Momentan keine Frau und so schlage ich mich gegen Mutter Natur. Sie gewinnt. Selbst durch aggressive Sturheit bleibt das Buschwerk, wo es ist. Blind, allein, zerkrazt und mit gebrochenem Fuß erkenne ich meine Niederlage an. Ich lasse los. Gebe auf und da erscheint sie. Ein israelisch/arabischer Lockenkopf mit Ausstrahlung und Wärme in der Stimme. Sie zeigt mir den Weg und ich komme… Im Steinkreis an.

    Ich kehre zurück in die Zivilisation und gönne mir nach dem Mittagessen noch Kuchen im Café. Was soll ich sagen? Essen ist der Sex des Alters. Als ich wieder gehen will, treffe ich Rainer, der vor Jahren hier war, sich als Tempeldiener und später als er wieder draußen war, als „männliche Hure“ verdingt hatte, und schließlich treu sorgender Familienvater geworden war. „Küssen?“ Passiert bei freier Liebe nicht. Alte Nuttenregel.“ Na dann, denke ich. Wir sind uns erstaunlich sympathisch. Er fordert mich auf zu einer politischen Auseinandersetzung zwischen Martin und der Frau zu kommen, die neulich im Forum wegen ihrer Äußerungen zur deutschen Kolonialgeschichte abgekanzelt wurde. Mein Interesse hält sich in Grenzen.

    Als ich zurück komme, sitzt eben jene Frau im Gras, die vor einigen Tagen im Kreis davon berichtet hattedass sie ihre ersten fünf Liebesakte, falls diese so genannt werden dürfen mit fünf verschiedenen Männern hatte. Der folgende schmerzhafte Vaginismus mag dazu geführt haben, dass sie die gängige Praxis in Frage stellte. Heute arbeitet sie mit Frauen an der Heilung des weiblichen Schoßraumes. Sie ist schön, wie sie so offen über ihre Gefühle und Sehnsüchte spricht. Ihr Ex-Partner ist jetzt mit meinem Neurographieflirt von gestern zusammen. Und sie wünscht sich nichts mehr als eine tiefe Partnerschaft.

    Im Forum bleibt neben Sarahs Rührung angesichts der vielen Menschen, die ihrer Einladung zur 30 Jahr Feier gefolgt sind, der zweiminütige Beitrag des Vaters der Tochter in Erinnerung, die damals mit ihrer Mutter die Gemeinschaft verlassen hatte. Die Mauer eines 23 jährigen Schweigens bekommt einen kleinen Riss. Wir singen: „Forget your perfect offering. There is a Crack in everything. That’s where the light shines through.“

    Beim Abendessen treffe ich Louise erneut und habe eine wirklich lustige Zeit. insgesamt wird hier alles solange durchgekaut, bis es zum Bewusstseinsbrei wird, den wir Mutter Natur in den Topf spucken. Man sieht sich nicht nur zwei mal. Auch nach Jahren sind die Geschichten von damals relevant und die Kontakte lebendig.

    Als ich nach dem Abwasch allein bleibe, frage ich mich, wie es mir jetzt ginge, hätte ich mit Louise, Susan, Maike, Eleonor und der Frau, deren Identität hier geschützt werden soll, geschlafen. Wäre mein Bewusstsein irgendwie kosmischer? Wäre die Information des heiligen Eros im planetaren Heilungsfeld aktualisiert worden? Trüge das irgendwie zum Weltfrieden bei? Oder wäre ich am Ende leer und unerfüllt, während lauter emotionale Feinheiten vom erotischen Friedenspanzer überrollt worden wären?

  • Tag 7 – Aufräumen für den Frieden

    Ich schlafe lang, weil ich bis vor ein paar Stunden am letzten Blogpost gearbeitet habe. Ich schaffe es denn noch zur sogenannten Matinee. Heisst zwar wie ein Zusammenkommen französischer Prägung, weisst aber deutliche Züge eines „Kirchganges“ auf. Sabine spricht von Gott/dem Göttlichen. Ich habe wenig behalten, auch weil mich der Post von gestern noch beschäftigt hat. Ich will vollständig und auch angemessen in meinen Überlegungen sein.. Soviel sei mit Wohlbehagen festgehalten. Sie weiss um die Fehler, die passiert sind und bemüht sich angemessen um Entschuldigung, Klärung und Frieden. Fühlt sich wie Aufräumen nach einer Party an auf der im Rausch der idealistischen Begeisterung der ein oder andere Drink zuviel oder daneben übber den Tresen gegangen ist. Manches Glas ist ungefallen, andere in Scherben gegangen. Ohne die Anfangsenergie räumt sie ein, wären vielleicht weniger Fehler gemacht worden, man wäre aber sagt sie, wahrscheinlich nicht mehr da. Das kann ich hören. Wo gehobelt wird, da fallen Spähne. Wer nicht wagt, macht keine Fehler. Ich habe keinen Hader mit dem Projekt oder seinen Genossen. Darüberhinaus wird jeder seinen Frieden machen,. Jeder nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen, könnte man sagen.

    Nach dem Pannel tritt eben jene junge Frau auf, die ich die letzten Tage nicht gesehen habe und der ich vor sieben Jahren begegnet war. Sie bietet einen „thraumasensiblen Raum zur sexuellen Erfahrungen“ an. Mein lieber Herr Gesangsverein. Da hat’s gestern aber gescheppert. Daneben hat, meine Damen, Diversen und Herren geöffnet, die …. Bodega! Also eben jener Liebesraum, in welchem der Eros sich in seiner reinen, ursprünglichen Wildnatur entfalten dürfe. Ferner, Kunst, Cafe, für jeden was dabei. Davor aber erstmal Brunch.

    Die Weggabelung (Bodega oder sexuelle Thraumata) vor der ich mich sehe, könnte nicht deutlicher sein. Hinzu kommt, dass ich nicht weiss, wo das Landhaus liegt, in dem eben jene Scherben aufgelesen werden könnten, sollte damals ein Glas vom Tresen gefallen sein. Ich muss also fragen. Man stelle sich das draußen in der Welt vor. „Können Sie mir sagen, wo der Bahnhof ist?“ Und dann noch… „Wissen Sie, wo ich meine etwaigen, sexuellen Thraumata bearbeiten könnte?“

    Dass solche Dinge hier möglich sind und ohne Schahm und vorgehaltene Hand gefragt werden können, stimmt hoffnungsvoll. Dass sie nötig sind, wirft wenigstens für mich die Frage auf: „Hat das denn sein müssen?“ Überwog der Nutzen der „sexuellen Befreiung“ wirklich die Risiken? Während ich über diese Fragen nachdenke, wird mir klar, dass ich auf den Schultern riesiger, sexueller Revolutionäre stehe. Die Fragen, die sie hatten, sind für uns heutige gratis gelöst worden. Jetzt eilfertige Kritik an den gemachten Fehlern vorzubringen, ist einfach und wohlfeil. Wer nichts tut, macht nichts verkehrt und wir alle lernen aus Expreriment und Fehlschlag. Die Investmentlegende Charlie Munger rät: Aus den Fehlern anderer Leute lernen, ist noch immer am billigsten.

    Ich treffe jemanden, die das selbe Ziel hat und wir verabreden uns, um das Landhaus aufzusuchen. Es wird eine lustige Fahrgemeinschaft. Dass die Gemeinschaft fröhlich und das Angebot niederschwellig ist, bedeutet nun wiederum nicht, dass hier Traumata im Handstreich geheilt werden. Obschon ich so manchmal in den Kreisen den Eindruck habe, als würde das dann und wann erwartet.So ganz nach dem Motto „Jetzt hammas ja besprochen.“

    Bevor es zum Landhaus geht, erst zum See. Noble geht die Welt zu Grunde. Und siehe da. Ich treffe jene junge Frau, die ich bisher vergeblich gesucht habe. Ich sage ihr ziemlich direkt, dass ich wegen damals gerne mit ihr sprechen würde und sie freut sich. Erstens mich zu sehen und zweitens über mein Angebot. Auch dies kurz in der Main Stream Gesellschaft. Ich laufe Dir nach dem Brunch übern Weg und sage: „Hey! Damals bei unserer sexuellen Begegnung sind für mich Fragen offen geblieben.“ Und Du sagst: „Klar lass uns auf einen Kaffee treffen.

    Wie dem auch sei, die Qualität der Begegnung überzeugt mich davon, dass andere den Thraumaspace eher brauchen als sie und ich. Am Ende des Tages entsprach ja unsere körperliche Begegnung einfach nur nicht dem menschlichen Interesse, dass ich für sie spürte. Ich wollte sie kennenlernen und habe mit ihr geschlafen. Diese beiden Ebenen sind hier auf eine Weise entflochten, wenn auch beide möglich, die halt mir nicht entspricht. Ich will Bindung und Vertrautheit wenn und auch meist bevor ich mit jemandem körperlich intim werde. Hier muss das eine nicht mit dem anderen einher gehen. Kann es aber. Ich treffe also die Entscheidung, den Kreis zu schließen und lasse das Thraumalandhaus für die Bodega sausen. Leute! Dass muss festgehalten werden. Landhaus, See, Aula und eine Bodega wo neben Wein und Gesang auch das Weib genossen werden kann, stellen schon eine ziemlich extravagante Form sozialistischen Reichtums dar. Ich fühle mich in diesem Augenblick wirklich fern von Verurteilung. Ich spüre einfach, dass ich keinen wirklichen Bedarf verspüre. Mein Ausflug in die Bodega gerät sodann auch zu einer eher ruhigen, meditativ beobachtenden Veranstaltung, die aber, soviel sei bezeugt, durch einen Tanz mit einer wirklich attraktiven Frau geschmückt werden wird.

    Der Tanz wird mir klar, ist einfach der öffentlich beobachtete, Safespace in dem Grenzen gecheckt und nach nonverbaler Übereinkunft überschritten werden können, den die Main Stream Gesellschaft braucht, um den Liebesakt in klaren Schutzgrenzen erleben zu können. Hier könnte man wahrscheinlich auch einfach nach Sex fragen. Beim Tanz wird klar, ob Anziehung wechselseitig vorhanden ist und beide Parteien können den „Aushandlungsprozess“ jeder Zeit beenden. Daneben ist die Tanzfläche natürlich auch eine Art Marktplatz mit verschiedenen Angeboten, Nachfragen und sogar begrenztem „Optionshandel“. Natürlich macht Tanzen auch einfach Freude.

    Zwei Veränderungen fallen auf. Während die Frauen, welche den „sozialistisch/revolutionären Edelpuff“ leiten, die selben sind, gibt es keine „Tempeldienerinnen“ mehr. Mann muss jetzt selber baggern oder sich einfach vorher schon mit einer in diesem Fall häufiger altgedienten Genossin verabredet haben. Hier sind einfach Freunde und Weggefärten in schöner Umgebung dabei, sich oft nach Jahren wieder erotisch zu begegnen. Und dann ist der Bereich zum Treffen klar vom Bereich zum Vögeln getrennt. Damals war alles offen. Auch hier eine weitere Maßnahme, um Menschen zu schützen? Ich fühle einen tiefen Frieden und eine sexuelle Erfülltheit ohne tatsächlich Sex zu haben. Es ist als wäre meine sexuelle Frage in diesem Moment einfach gelöst. Keine Fragen mehr Eure hochverehrte Weiblichkeit.

    Die Raumhalterin beobachte ich, ist lange damit beschäftigt, einer jungen Frau die Wichtigkeit und auch die Akzeptanz des klaren, körperlich empfundenen „Jas“ und „Neins“ nahe zu bringen und abermals stellt sich jene Zufriedenheit bei mir ein, die sich einstellt, wenn man wenn auch als nicht wirklich Betroffener bezeugen darf, dass Fehler ernst genommen werden, um daraus zu lernen. Die Tempellleiterin verstehe ich, liebt diesen Ort, sie lobt gerade den Sex, der in einer halben Stunde auf den Punkt geschieht. Während einerseits für jeden ein Raum da sein sollte, öffnet sie auch die Möglichkeit, dass „es mal länger dauern“ könnte. Ob neben leckeren Getränken, dann auch Snickers gereicht werden? Kondome jedenfalls sind und waren stets vorhanden.

    Nach zwei Stunden Liebestempel ohne Sex begebe ich mich auf eine langsame, lange Wanderung. Die Natur iSt wunderschön und abermals stellt sich Frieden ein.

    In der folgenden Gruppe verstört mich die Geschichte einer Frau, die vor Jahren zum entscheidenden Zeitpunkt mit drei verschiedenen Männern intim war und lange Zeit nicht wusste, wer der Vater ihres Kindes war. Während das für die Frau, die dann die Gemeinschaft verliess schwierig gewesen sein muss, will ich mir lieber nicht vorstellen, was es für die Identität des Kindes bedeutet, zu wissen, dass es nicht wichtig genug warob sie nun auf die Welt kommt oder nicht, um sauber zu verhüten. Einmal mehr geistern die 12 Kinder Otto Mühls durch meinen Kopf, die auf sogenannten „Ficklisten“ gezeugt wurden. Ganz deutlich will ich hier sagen, dass Mühl nie Teil der Gemeinschaft war. Duhm und Mühl kannten sich aber und die Abgrenzung die heute beteuert wird, war damals eher so eindeutig, wie die Hubert Eiwangers von der Naziideologie. Zurück bleibt für mich eine gewisse Traurigkeit.

    Nach dem Abendessen versuche ich mich in einem unschuldigen Flirt mit einer attraktiven Frau. Am Ende des Tages liegt meine Hand auf ihrerwährend wir versuchen heraus zu finden, ob ich mit ihrer Hilfe ein neurographisches Bild erzeugen kann. Es besteht noch Hoffnung aber andererseits ist meine Fähigkeit zum Flirt ungefähr so wichtig, wie die Neuronen für Vogelgesang, wenn der Frühling rum ist. Ich habe zwei Beziehungen, bin zehn Jahre älter als diese Frau und habe vier Kinder. Gut. Verbuchen wir das einfach als schöne Begegnung und als Fingerübung mit einer Filsstiftfarbpalette.

    Ihr Freund kommt und ich lasse die jungen Leute ziehen. Der Abend geht zur Neige und ich fühle mich etwas einsam.

  • Tag 6 – Zen, Apokalypse und der Tanz des Lebens

    Schon früh war ich auf den Beinen und dachte den sonnenaufgang im Steinkreis zu erleben. Doch es öffnete sich kein Weg. Ich fand die Abzweigung nicht, das GPS war widersprüchlich und so wurde aus meiner Steinkreismeditation eine Gehmeditation bis zum Frühstück. Das ließ ich mir nicht entgehen.

    Nach dem Frühstück entschied ich mich gegen die Wanderung. Wer nicht will, der hat schon und half beim Marmelademachen. Das hatte den Nebeneffekt, dass Meisterkoch Pan mit in die Geheimnisse echten Saitans und guter Brauner Soße einweihte. Ich benutze die Zeit bis zum Mittagessen, um die Rückreise zu planen, Wäsche unter der Dusche zu waschen und ein paar Telefongespräche zu führen. „Wasser tragen und Holz holen.“, wie man im Zen so sagt. Das Mittagessen und die Zeit im Cafe brachte ich mit relativ interessanten Gesprächen zu, was dazu führte, dass ich dem nassen Element in seiner wilden Form untreu blieb und nicht in den See hüfte, aber da waren sie ja mit Singen beschäftig.

    Es hätte ein ruhiger Nachmittag werden können. Ich hätte nur verweigern müssen. Aber ich ging hin. Stellt Euch vor es wäre Forum und keiner ginge hin. Wie entspannt das doch wäre…

    Triffst Du den Dieter auf Deinem Weg, erschlage ihn, um ein altes Sprichwort aus dem Zen abzuwandeln. Dem charismatischen alten Herrn, will man doch nichts zu Leide tun, oder doch?

    Im Forum gab es Prügel. Nicht für Dieter, der ja aus Krankheitsgründen revolutionsunfähig zu Hause blieb, sondern für das Projekt ganz allgemein.

    Das griechische Wort „Apokalypse“ bezeichnet dem Sinn nach das Hinfortnehmen eines die Wahrheit verdeckenden Schleiers. Mehr nicht und weniger nicht. Es war also Zeit für Offenbarung, auch wenn hier Johannes keine Rolle spielte und auch sonst alles eher unspektakulär von statten ging.

    Die Hauptkritikpunkte waren:

    • fehlende Akzeptanz von zweier Beziehungen
    • – Struktureller Druck zum Vollzug von sexuellen Handlungen.
    • – Mangelne Wertschätzung für die Entfaltung des Individuums zu Gunsten der kollektiven Erfordernisse
    • – Hierarchie und Mangel an Raum zum Ausdruck von Widerständen

    • All das schreibe ich nicht auf aus Schadenfreude, Rechthaberei oder aus dem Wunsch Schaden anzurichten. Ich will nur ein paar grundlegende Gedanken zur historischen Kontinuität von Adolf Hitler über Otto Mühl bis hin zu der quasi totalitären Ideologie der globalen Heilungsbiotope aufzeigen. Das Argument lautet in etwa wie folgt:
    • Im Versuch alle totalitaristischen, autoritären und gewaltsamen Elemente der Nazi-Ideologie mit Vehemenz los zu werden, hat man einen Schatten mitgeschleppt, den man offenbar durch noch so viel Forum nicht vollständig hat auflösen können. Autoritär deshalb, weil die Hierarchie Kritik eher verunmöglicht. Totalitär deshalb, weil die Lösung der sexuellen Frage, als Lösung für alle und jeden verstanden wird. Gewaltsam deshalb, weil ein System entstand, dass Frauen und Männer motiviert hat, über ihre eigenen Grenzen zu gehen.
    • Von den Soldaten der Wehrmacht über die geschorenen, Teils entwürdigten Kommunaden Otto Mühls, führt eine Kontinuität bis hin zu den Genossen, die alles zur Heilung der Welt haben tun wollen. Am duhmschen Wesen soll die Welt genesen. Sie ist nämlich krank und braucht Medizin. Starke Medizin. Den freien Eros. „Wollt Ihr die totale Liebe? Wollt Ihr sie wenn nötig noch totaler als total?“
    • Rutger Bregman führt in seinem Buch „Im Grunde gut“ aus, wie der Mensch sich selbst, als soziales Wesen auf Verträglichkeit hin selektiert hat. In einer nomadisch und vielleicht matriarchal lebenden Gruppe wurden die Grobiane tendenziell nicht mit Liebe bedacht und hatten weniger Nachkommen. Zeugnis davon legen unsere relativ schmalen Wangenknochen, die verletzliche Stirn etc. ab. Der Neandertaler war robuster, klüger, stärker. Er hatte ein größeres Gehirn. Aber… Er könnte unsozial gewesen sein. Homo Sapiens war darauf bedacht, größere Gruppen koherent zu gestalten und konditionierte deren Mitglieder über Jahrtausende zur Kooperation und Verträglichkeit.
    • Diese vordergründig positive Eigenschaft sorgt nicht nur für ein angenehmes Miteinander, sondern manchmal auch dafür, dass Individuen die Erwartungen, ausgesprochen oder nicht, der Gruppe erfüllen. Wir wollen den andern und dem Führer gefallen. In sofern der Führer im Soldatenrock oder lungi ein Rollenmodell ist, wollen wir sogar sein wie er.
    • Wenn nun der Führer verkündet, der Eros sei eben diese heilige Kraft, die wenn befreit, den tausendjährigen Frieden einleutet, dann haben die Mitglieder der ersten Keimzelle dieser planetaren Heilung eben sex. Mehrmals am Tag, mit verschiedenen Partnern. Vielleicht auch ob sie nun wirklich wollen oder nicht.
    • Im heutigen Forum legten entspprechend MännerZeugnis davon ab, dass sie Frauen penetrierten, obschon sie spürten, dass dies gerade eine Handlung frei von Liebe war. Wir könnten den Vergleich der Vergewaltigung als Kriegswaffe ziehen.
    • Frauen wiederum gaben an, sie haben ohne Unterschied und ohne dass „wann“ und das „wer“ zu klären mit Männern geschlafen. Es sind immer die Frauen, die feminine Genitalverstümmelung exekutieren. So sagte heute jemand, es handle sich um eine von Frauen exekutierte männlich geprägte Ideologie.
    • All dies geschah in bester Absicht und für den „Endsieg“ über die Gewalt. Für eine Welt ohne Krieg. Im Namen aller Kreatur. Es müssen Opfer gebracht werden…
    • Nochmal…. Im Versuch den Krieg, den Autoritarismus und die strukturelle Gewalt los zu werden, hat man sich einen Schatten eingefangen, der die selben Phänomene in neuer Gestalt hervorgebracht hat. All das geschieht, weil Menschen verträglich sein wollen, um dazu zu gehören.
    • Ayda kritisierte die „moralische Verletzung“ die entsteht, wenn wir dem Genozid hilflos zu schauen und nichts tun können. Wir flüchten in Rationalisierung, Verweigerung oder Apathie, um den Schmerz nicht mehr spüren zu müssen.
    • Sieben Jahre ist es her. Ich lag bei einer Frau, welche von der Gemeinschaft die Aufgabe übertragen bekommen hatte, halbstündlich mit jeweils anderen Männern zu schlafen. Sie war alkoholisiert und ansonsten eher passiv. Ich fühlte, dass hier etwas falsch war, obschon ich sie als Mensch mochte. Die Begegnung hatte keine Tiefe und war etwas seicht. Wichtiger aber finde ich jetzt in der Rückschau, dass sie zu einer „moralischen Verletzung“ geführt haben könnte, indem beide Seiten aufgrund der Rahmenbedingungen nicht gut in der Lage gewesen sein könnten, ihre Gefühle wahrzunehmen und „nein“ zu sagen. Ich Denke nicht, dass diese Begegnung „schlimm“ war. Ich möchte es aber auch nicht denken. Schließlich ging es doch um … Ja richtig Liebe. Und das kann und darf doch per Definition nicht falsch gewesen sein!
    • Natürlich könnte man Störgefühle im Forum zum Ausdruck bringen. Aber wäre man damals in den alten Tagen in der Hierarchie aufgestiegen? Wäre man näher herangerückt an die 1942 geborene Manifestation des göttlichen Lichts, wie Dieter erst gestern genannt worden ist?
    • All das klingt schlimmer, als es wahrscheinlich ist. Das Problem ist nicht das Ausmaß der strukturellen Vergewaltigung von Frauen. Das Problem ist auch wahrscheinlich nicht das Ausmaß in dem Männer in die Rolle all Zeit bereiter Erossoldaten gedrängt wurden, um gruppenverträglich zu sein. Das Problem ist, dass wir eben dieses Ausmaß aufgrund seiner schattenhaften Natur nicht vollständig kennen können.
    • In dem Maße, wie Tamera externe Berater hinzu zieht und einräumt, nicht über „die Wahrheit“ zu verfügen, hört ein wundervolles Projekt auf, ein totalitäres System zu sein. In dem Maße, wie verschiedene Formen der Liebe lebbar und möglich werden, hört das Projekt auf psychologisch und moralisch verletzend zu sein. Unbenommen ist auch, dass sowohl Weib wie Mann Freude an freier Liebe haben können, nicht aber „müssen“. Dieses Wort aber hörte man im Kontext der politischen Aktivitäten des Projektes all zu häufig und wir erinnern uns: „Das intime ist politisch und das politische intim.“ Sind wir sicher, dass der „unbedingte Siegeswille“ das unbekannte Land zwischen Mann und Frau nicht in ein „Killing Field“ verwandelt hat, auf welchem vor allem und zu erst die Wahrheit gestorben ist? Glaubten wir wirklich wir hätten den Schatten der Mühls und Hitlers dieser Welt in drei Jahren abgeschüttelt?
    • Kontakt, Vertrauen und Solidarität sind gerade Anfangs zarte Pflanzen, die nur da gedeihen, wo Ideologie nicht Forderungen an die Begegnung zwischen Menschen stellt. Befreien wir den Eros nicht nur von Angst und Eifersucht, sondern auch von Balast überzogener Erwartung und politischer Ambition. Wohlmöglich entstünde dann eben jene so oft beschworene „Koherente erste Gruppe“, welche in Wahrhaftigkeit versprechen könnte, einander nicht mehr zu verlassen. Und möglicherweise wäre eben jene Gruppe fähig ein Modell der Gewaltlosigkeit und Wahrheit zu sein, von dem die Welt lernen könnte, nicht muss.

    Ich kann nicht genug betonen, wie inspirierend ich viele Aspekte Tameras finde. Nicht mal wöllte ich behaupten, freie Liebe sei per se böse. Böse wird sie, wenn sie zur Weltrettung einer notwendigen, bittren Medizin gleich, „verordnet“ wird. Das Charisma des Führers ist nicht böse. Erstickt aber der Wunsch der Jünger nach Frieden und Koherenz die Möglichkeit von Widerspruch und Kritik, so wird das göttliche Licht zur irrlichternden Verführung. Noch gestern gab Dieter an, er sei sein Leben lang nicht eifersüchtig gewesen. Wir wollen ihm glauben. Müssen wir aber alle ebenso werden wie er, weil er uns ein Licht entzündet hat und dieses Licht immer noch in bester Absicht trägt? Und ebenso wesentlich, darf er Mensch sein, fehlbar, halb sich seiner selbst bewusst, stolpernd, scheiternd und immer besser scheiternd?

    Noch einmal. Im Dienst der Wärme, für alles was Haut und Fell hat. Im Namen von Mann und Weib. Und sie erkannten sich und beendeten den Krieg in ihren Herzen und als sie den Krieg gegen den Krieg beendet hatten, als sie auch den Krieg lieben konnten, da endlich vermochten sie einander zu lieben, frei, lustvoll, achtsam und in ruhiger Langsamkeit, einander Freude schenkend, für einander sorgend, wie Eltern für ihre Kinder sorgen.

    Es gäbe einen Weg. Wenn wir das „Böse“ liebten. Wenn wir auch diese Wahrheit frei von inneren Krieg akzeptieren könnten, dann könnte nicht muss, Frieden zwischen den Geschlechtern sein. Und wenn kein Krieg gegen den Krieg mehr in den Herzen wäre und deshalb die Liebe frei wäre, nicht nur frei von Angst und Eifersucht, sondern frei von politischen Ansprüchen, dann vielleicht könnten Frieden und Liebe ausstrahlen und ganz allmählich die Welt erfüllen. Es geschähe nicht in drei Jahren und vielleicht niemals. Ob die Liebe stärker ist, als die Gewalt können wir nicht sicher wissen, wohl aber hoffen, darauf vertrauen und eben … lieben.