Von Finisterre nach Muxía – Unterwegs zum Ende der Welt
Aufbruch in Finisterre
Die Dämmerung legt noch einen silbrigen Schimmer auf den Hafen von Finisterre. Möwen kreischen über den Fischerbooten, während ich meinen Rucksack schultere. Noch einmal schaue ich zurück auf die Gassen von Fisterra (galicisch für Finisterre), wo gestern Abend Pilger aus aller Welt den “Ort am Ende der Welt” feierten. Am nördlichen Ortsrand, beim steinernen Baixar-Kreuz mit Blick auf den endlosen Strand Playa Langosteira, verabschiede ich mich im Herzen von Finisterre . Von hier oben glitzert der Atlantik in der Morgenluft – ein verheißungsvoller Anblick, der mich innehalten lässt. Doch der Weg ruft, und ich folge den gelben Pfeilen stadtauswärts. An jeder Abzweigung weisen Doppel-Wegweiser sowohl zurück nach Fisterra als auch voraus nach Muxía . Ein letzter Blick auf Finisterres Häuser unter mir, dann tauche ich in die galicische Landschaft ein.
Gleich hinter dem Ort geht es zunächst über eine schmale Asphaltstraße am Rand der Landstraße entlang . Die Straße ist ruhig um diese frühe Stunde; nur eine Bäuerin treibt ein paar Kühe über den Weg. Die Luft riecht nach Salz und feuchter Erde. Langsam steigt der Pfad an – sanfte Hügel, mit ginsterbewachsenen Hängen zur Rechten und dem Meer im Rücken. Ein leichter Küstennebel hängt in der Luft. Während ich einen Hügelkamm erreiche, bricht die Sonne durch die Wolken und taucht die Landschaft in goldenes Licht, das auf den taufrischen Wiesen glitzert. Für einen Moment bleibe ich stehen, staune über das Schauspiel aus Licht und Wolken über dem Ozean und atme tief ein . Dann gehe ich weiter, vorbei an einer kleinen weißgetünchten Kapelle mit der Aufschrift “San Roque” – das leise Murmeln eines Morgengebets dringt aus der halb geöffneten Tür, als wollte auch der Schutzheilige der Reisenden mir seinen Segen mitgeben.
Hinter San Roque erreiche ich den Weiler San Martiño de Duio. Eine alte Steinbrücke führt über einen Bach, und daneben duckt sich die romanische Igrexa de San Martiño mit ihrem moosbewachsenen Dach ins erste Licht. Das Gotteshaus wirkt verschlafen; nur eine Katze streicht um die verwitterten Grabsteine auf dem Kirchhof. In diesem Dorf rankt sich eine Legende um eine versunkene Stadt namens Dugium – angeblich liegt sie hier irgendwo unter den Wellen verborgen, was dem Ort einen Hauch Mystik verleiht. Ich stelle mir vor, wie einst Pilger diese Geschichten austauschten, während sie an gleicher Stelle vor Jahrhunderten vorübergingen. Nach der Kirche von Duio führt der Camino abwärts über einen Pfad zwischen Steinmauern hindurch. Vogelgezwitscher erfüllt die Morgenluft, und ich höre das ferne, rhythmische Tosen der Brandung – ein Versprechen, dass der Weg mich zurück ans Meer führen wird.
Wälder, Weiler und die wilde Küste
Kurz hinter Duio tauche ich in einen Küstenwald ein. Eukalyptusbäume ragen schlank in den Himmel, ihre abgestreifte Rinde liegt in rostroten Fetzen am Boden. Der Pfad ist schmal und duftet nach Eukalyptus und Pinienharz. Meine Schritte knirschen auf Kies und gelegentlich matschigem Boden – es hat nachts leicht geregnet, und die Erde ist dunkel und weich. In der Ferne höre ich das immer lautere Rauschen der Wellen, obwohl ich das Meer noch nicht sehen kann. Durch das dichte Blätterdach fallen Sonnenstrahlen in tänzelnden Mustern auf den Weg, während ich gemächlich bergauf steige. Plötzlich öffnet sich der Wald zu einer kleinen Ansiedlung: Buxán, steht auf einem handgemalten Holzschild. Hier, am Eingang des Weilers, entdecke ich etwas Unerwartetes: Unter einem schmucken Vordach hat jemand einen inoffiziellen Pilgerstopp eingerichtet .
In einem Vorgarten steht ein Tisch mit Thermoskannen, Obst und Keksen, daneben zwei gemütliche Sessel aus Bambus. Ein handgeschriebenes Schild begrüßt die Vorbeikommenden: “Bienvenidos – Donativo”. Neugierig trete ich näher. Eine freundliche Dame mittleren Alters – vermutlich die Bewohnerin des angrenzenden kleinen Hauses – kommt lächelnd heraus und bietet mir einen Kaffee an. Sogar Hafermilch hat sie parat – “die erste vegane Milch seit Wochen!” denke ich überrascht und muss an einen Kommentar im Pilgerforum zurückdenken . Zwei Hunde dösen in der Morgensonne, während eine getigerte Katze schnurrend um meine Beine streicht. Ich setze mich für einen Moment. Ruhige Musik spielt leise im Hintergrund, und im Regal an der Hauswand stehen ein paar Bücher zum Schmökern bereit. Diese kleine Oase fühlt sich an wie ein Geschenk des Himmels – eine echte “trail angel”, wie es andere Pilger treffend beschrieben haben . Dankbar trinke ich meinen Kaffee, der mit Liebe zubereitet wurde, und knabbere an einer Scheibe selbstgebackenem Kuchen. Mit der Dame wechsle ich ein paar Worte auf Spanisch; sie erzählt, dass sie den puesto vor einigen Jahren eröffnet hat, um Pilger auf ihrem Weg zu stärken. Ich spende ein paar Münzen in die Donativo-Kasse, fülle meine Wasserflasche auf und verabschiede mich herzlich. Was für ein wunderbarer Ort, denke ich, als ich Buxán verlasse – beflügelt vom Koffein und der Herzenswärme dieser Begegnung.
Hinter Buxán führt der Camino wieder in dichteres Grün. Eine schmale Asphaltspur windet sich sanft durch Föhrenwälder, ehe ich nach wenigen hundert Metern wieder auf einen Naturpfad abbiege . Jetzt höre ich das Meer lauter – und plötzlich lichtet sich der Baumbestand. Vor mir öffnet sich die Landschaft und gibt den Blick frei auf einen atemberaubenden Küstenstreifen.
Erster Blick auf die Praia do Rostro: einen einsamen, vom Atlantik umtosten Strand, der in der Ferne im Dunst verschwimmt. In der Ferne liegt Praia do Rostro, ein langer, breiter Strand an der wilden Atlantikküste. Golden schimmernder Sand erstreckt sich in einem weiten Bogen, flankiert von Dünen und niedrigen Klippen. Meterhohe Wellen rollen mit donnerndem Getöse an den Strand und hinterlassen Gischt, die in der aufgehenden Sonne glitzert. Kein Mensch ist zu sehen – kein Haus, keine Straße, nur unberührte Natur. Ich bleibe einen Moment auf dem Pfad stehen, der nun oberhalb des Strandes entlangführt, und lasse den Anblick auf mich wirken. Das Meer riecht hier salzig und frisch, der Wind zerrt an meinem Hut und trägt feine Sprühnebel bis zu mir herauf. Die Szenerie hat etwas Erhabenes: Hier spürt man, warum diese Küste Costa da Morte – Küste des Todes – heißt, denke ich bei mir, während die Wellen unbarmherzig aufschäumen. Doch gleichzeitig fühle ich mich lebendig und frei, Teil dieser wilden Schönheit.
Der Weg führt nun leicht abwärts und näher an die Küste heran. Vor mir glitzert eine Pfütze auf dem Pfad – Überreste des Regens der letzten Nacht. Zu meiner Linken kann ich jetzt vereinzelte Häuschen ausmachen, die sich an den Rand der Dünen schmiegen. Es ist das Dörfchen Castrexe, das am nordwestlichen Ende der Praia do Rostro liegt. Als ich die ersten Häuser erreiche, fällt mir auf, dass fast jedes Gehöft einen steinernen Getreidespeicher – einen Hórreo – besitzt. Die schmalen Granitbauten auf Pfeilern reihen sich wie kleine Kapellen entlang des Weges auf , einige mit Maiskolben behängt, andere leer und von Flechten überzogen. Hühner scharren im Sand, und irgendwo bellt ein Hund. Castrexe wirkt verschlafen; kein Café, kein Laden – nur ein paar Fischerboote, die am Rand der Dünen umgedreht lagern, zeugen davon, dass hier Menschen vom Meer leben. Als ich durch die sandige Dorfstraße trauchele, schlägt mir der Geruch von Tang und Teer entgegen, vermischt mit dem milden Stallgeruch der Bauernhöfe.
Hinter Castrexe verlasse ich die Küste fürs Erste. Ein Wegweiser schickt mich links hinauf in die Hügel. Der Camino wechselt wieder auf unbefestigte Wege und führt durch niedrige Büsche und Farne. Leuchtend grüne Farnwedel reichen mir bis zur Hüfte und kitzeln an meinen Händen, während ich mich einen Pfad hinaufarbeite, der durch den Morgenregen stellenweise rutschig ist. Die Steigung macht mir nun doch etwas zu schaffen; ich merke, wie mein Atem geht und Schweiß sich auf meiner Stirn bildet. In solchen Momenten bin ich froh über meinen Wanderstab, der mir Halt gibt. Schritt für Schritt gelange ich auf eine Kuppe. Von hier oben kann ich noch einmal einen Blick zurück auf den Ozean erhaschen – als wollte er Lebewohl sagen –, bevor der Weg zwischen Kiefern wieder ins Landesinnere abtaucht.
Nach etwa 9 Kilometern erreiche ich den winzigen Ort Padrís. Ein alter Mann in blauer Arbeitskleidung lehnt am Gartenzaun und grüßt freundlich mit einem “Buen Camino”. Padrís besteht nur aus ein paar Steinhäusern mit roten Ziegeldächern; es scheint, als hätte hier die Zeit keinen Eile. Ich quere den Ort auf einem holprigen Pfad zwischen Gemüsegärten – Stauden von Kohl und Kartoffeln recken sich über die Steinmauern. Am Ortsrand von Padrís führt der Camino auf einem mit Gras bewachsenen Hohlweg in ein Waldstück. Hohe Eukalyptusstämme mischen sich wieder unter die Pinien, und ihr aromatischer Duft begleitet mich. Der Boden unter den Füßen wird weicher und ist bedeckt mit abgefallenen Blättern. Die Stille ist greifbar; nur das Zirpen der Grillen und das gelegentliche Plätschern eines Bächleins sind zu hören. Ich nutze die Ruhe, um einen Müsliriegel aus meinem Rucksack zu holen – bisher gab es seit Finisterre außer dem Pilgerstopp in Buxán keine Verpflegungsmöglichkeit. Zum Glück habe ich genug Proviant mitgenommen, denn unterwegs gibt es hier bis Lires kaum geöffnete Bars oder Geschäfte . Mümmelnd schreite ich weiter, während der Weg sich sanft bergab neigt.
Schließlich gelange ich nach Canosa, einem kleinen Weiler etwa 11 km seit Finisterre. Canosa begrüßt mich mit stillem Charme: Ein Dutzend grauer Häuser schart sich um eine enge Gasse, in der Hühner umherstolzieren. Auf einem Balkon trocknet Wäsche im Wind, sonst rührt sich nichts. Eine Bar oder einen Laden suche ich vergeblich – dieser Weiler bietet Pilgern keinerlei Dienste, außer vielleicht einem freundlichen “Hola” eines älteren Herrn, dem ich begegne . An der Dorfquelle jedoch kann ich meine Wasserflasche auffüllen: Am Ortsausgang entdecke ich einen steinernen Brunnen mit einem kleinen Rastplatz – zwei Holzbänke unter einer Kastanie laden zur Pause ein . Das klare Quellwasser sprudelt kühl aus einem metallenem Auslass in ein Becken. Dankbar trinke ich ein paar große Schlucke und spritze mir etwas Wasser ins Gesicht. Die Erfrischung tut gut, denn die Sonne steht nun fast im Zenit und die feuchte Wärme des Spätsommer-Vormittags legt sich wie ein leichter Schleier auf die Haut.
Weiter geht es, nun auf einem breiteren Forstweg. Der Camino biegt hinter Canosa nach Norden ab und folgt einem Bachtal. Zu meiner Rechten höre ich den Rego da Carbaliza, einen kleinen Fluss, der munter neben dem Pfad herfließt . Der Weg selbst ist von grünen Tunneln überwölbt: Üppige Farne und Moos bedecken die Böschungen, und über mir schließt sich das Blätterdach der Eukalypten. Nach einer Weile macht der Pfad eine Kurve, quert den Fluss über Trittsteine – konzentriert hüpfe ich von Stein zu Stein – und steigt dann leicht an. Plötzlich lichten sich die Bäume: Lires liegt vor mir.
Halbzeit in Lires
Vor mir öffnet sich das Tal zum Meer hin. In der Senke erkenne ich die roten Dächer von Lires und den Glockenturm der kleinen Dorfkirche, dahinter glitzert die geschützte Meeresbucht von Lires in der Mittagssonne. Ich atme auf – knapp 13 Kilometer habe ich geschafft, ungefähr die Hälfte der Strecke nach Muxía . Über einen Feldweg steige ich hinab in den Ort. An einem Wegkreuz nahe der romanischen Kirche San Estevo de Lires (Santo Estevo) warten bereits ein paar andere Pilger; offenbar bin ich nicht allein auf diesem Weg unterwegs. Ein altgedienter Kilometerstein verrät die Distanz: “Muxía 15 km”, lese ich darauf – so viel liegt noch vor mir.
In Lires umfängt mich ländliche Idylle. Das Dorf erstreckt sich entlang einer Hauptgasse, gesäumt von traditionellen Häusern mit Blumengärten. Im Hintergrund gluckst ein kleiner Fluss, der hier ins Meer mündet – tatsächlich besitzt Lires die kleinste Flussmündung Galiciens, wie ich aus meinem Reiseführer weiß . Zunächst komme ich an der Dorfkirche vorbei. Ihre Türen stehen offen, also trete ich ein: Im Halbdunkel ruht der schlichte Innenraum, nur eine Kerze flackert. Ich setze mich für einen Moment auf eine Holzbank, lege den Rucksack ab und spüre dankbar die Kühle der dicken Steinmauern. Eine kleine Pause im Gotteshaus tut gut – draußen hört man gedämpft das Zwitschern der Spatzen und in der Ferne das Rauschen des Meeres.
Wieder draußen folge ich den Schildern zu den Herbergen und Bars. Hinter der Kirche biegt der Weg steil nach rechts ab – wie angekündigt muss man sich den Pausenort erarbeiten, denn eine kurze, knackige Steigung führt hinauf zum höher gelegenen Teil von Lires . Bald gelange ich zum Café und Albergue As Eiras, das am rechten Wegrand liegt. Es ist kurz nach Mittag, und hier herrscht geschäftiges Treiben: Pilger haben sich auf der Terrasse versammelt, dampfender Café con Leche und Teller mit Nudeln oder Salat stehen auf den Tischen. Ich erhasche Wortfetzen auf Deutsch, Spanisch, Englisch – ja, Lires ist ein beliebter Zwischenstopp, viele bleiben über Nacht. Kein Wunder: Das Hotel-Restaurant As Eiras gilt als Oase für Wanderer, mit komfortablen Zimmern und herzhaftem Essen . Es gibt hier sogar ein Pilgermenü mit frischem Fisch aus der Region und Gemüse aus dem eigenen Garten, wie eine Tafel am Eingang verkündet.
Ich setze mich zu zwei spanischen Pilgerinnen an den Tisch, die ich in Finisterre bereits gesehen hatte. Schnell entspinnen sich Geschichten über den bisherigen Weg, während wir uns eine empanada – die typische galicische Teigpastete – und einen Teller heißen Caldo Gallego (Kohlsuppe) teilen. Dazu eine eiskalte Kas-Limonade, deren Süße sofort neue Energie spendet. Die Wirtin scherzt mit den Gästen und flitzt flink zwischen Theke und Terrasse umher. Im Hintergrund läuft leise Musik, und von irgendwo weht der Duft von gegrilltem Pulpo (Krake) herüber – vielleicht aus der Küche oder einem der benachbarten Restaurants. Tatsächlich hat Lires für seine Größe erstaunlich viele Unterkünfte und Lokale: Auf wenigen hundert Metern finden sich Casa Raúl, Casa Lourido, Casa Luz und weitere Pensionen und Ferienwohnungen für Besucher . Sogar nagelneue Cabañas – hölzerne Bungalows – sollen am Ortsrand stehen . Man spürt, dass dieses einst verschlafene Nest durch den Camino und durch den nahe verlaufenden Camiño dos Faros (Galicischer Küstenwanderweg) einen kleinen Aufschwung erlebt hat.
Während ich esse, lasse ich meinen Blick über die sanften Hügel schweifen. Unter mir funkelt das Wasser der Ría de Lires, und ich stelle mir vor, wie abends die Sonne glutrot im Atlantik versinkt. Lires ist berühmt für seine spektakulären Sonnenuntergänge über der Meeresbucht – schade, dass ich weiter muss und das heute nicht miterleben kann. Ein paar Pilger haben sich entschlossen zu bleiben; sie suchen bereits ihre Herbergen auf oder strecken sich wohlig gesättigt auf der Wiese nebenan aus. Ich jedoch packe nach einer guten Stunde wieder zusammen. Ein Blick auf meine Uhr mahnt zur Weiterreise – noch etwa 15 Kilometer liegen vor mir, und ein längerer Aufstieg erwartet mich im zweiten Teil. Ich fülle meine Wasserreserven an einer Trinkwasserstelle bei As Eiras auf und verabschiede mich von meinen Tischnachbarn. Bevor ich gehe, kaufe ich mir bei der Bar noch ein Bocadillo (gefülltes Baguette) zum Mitnehmen – man weiß ja nie, ob unterwegs etwas offen hat. Bepackt mit neuen Kalorien und voller Tatendrang schwinge ich den Rucksack auf und mache mich auf den Weiterweg.
Vom Café As Eiras führt der Camino wenige Meter weiter zu einem Picknickplatz mit Holzbänken, wo erneut ein Wegweiser den Weg weißt . Ich folge dem Pfeil und steige ein paar Stufen hinab. Bald verlasse ich den Asphalt – vor mir führt ein hübscher Pfad mit rechteckigen Steinpflasterplatten bergab durch dichtes Grün. Kinder haben mit Kreide bunte Muscheln und Pfeile auf die Pflastersteine gemalt, fast wie kleine Segnungen für die Weiterziehenden. Nach ein paar Minuten höre ich unten im Tal wieder Wasser rauschen: Über eine elegante Steinbrücke überquere ich den Río Castro, der hier glucksend Richtung Meer fließt . Ein verwunschen wirkender Platz – Farne und Schilf säumen das Ufer, und unter der Brücke haben Schwalben ihre Nester gebaut. Auf der anderen Seite des Flusses steigt der Weg wieder an. Die Steinplatten enden, und ich laufe nun auf einem breiten Wirtschaftsweg bergauf zwischen Feldern. Noch einmal blicke ich zurück: Durch die Bäume kann ich Lires und seine Dächer erkennen, die jetzt unter mir liegen. Ein bisschen Wehmut steigt in mir auf – die nächste Etappe beginnt, sicherlich anstrengender, aber auch einsamer, und Lires mit seinem Komfort liegt hinter mir.
Über den Monte Facho de Lourido
Vor mir liegt eine lange Steigung durch die galicische Hügellandschaft. Der Camino führt zunächst auf einer asphaltierten Nebenstraße bergan, die in weitem Bogen durch Wiesen zieht. Die Mittagssonne brennt nun spürbar, aber zum Glück spendet mir mein Hut Schatten, und ein leichter Wind vom Atlantik her sorgt für Abkühlung. Nach gut einem Kilometer erreiche ich wieder den Schutz des Waldes. Der Weg wird nun zum schmalen Erdpfad, der sich unter schattigen Bäumen fortsetzt. Erneut umfängt mich der würzige Duft von Pinien und Eukalyptus. Die Steigung ist sanft, zieht sich aber beständig hin – es fühlt sich an wie ein langer, grüner Tunnel, der mich höher und höher führt. Nach einer Weile treffe ich auf eine kleine Wegkreuzung, an der ein paar verlassene Steinhütten stehen. Ein hölzernes Schild mit gelber Aufschrift zeigt geradeaus: “Muxía”. Hier verlasse ich den Waldweg und folge für einige hundert Meter einer kaum befahrenen schmalen Asphaltstraße. Die Sonne flirrt auf dem grauen Teer, die Hitze lässt die Luft darüber flimmern. Doch schon bald zweigt der Camino erneut links ab – diesmal auf einen Schotterpfad, der wieder in kühle Waldesdunkelheit eintaucht . Dankbar betrete ich den weichen Boden unter den Bäumen und nehme den nächsten Anstieg in Angriff.
Nach insgesamt etwa 2 Kilometern stetigen Bergaufgehens erreiche ich das Örtchen Frixe. Am Ortseingang von Frixe – einem typischen galicischen Dorf mit vielleicht zwanzig Höfen – spüre ich, dass es Zeit für einen kurzen Halt ist. Ich komme an einem kleinen betonierten Unterstand vorbei, einer Art Bushaltestelle oder Gemeinschaftsplatz, in dem es überraschenderweise einen Getränkeautomaten gibt . Das Summen seines Kühlaggregats wirkt surreal in der sonstigen Stille dieses Dorfes. Daneben stehen ein überdachter Holztisch und Bänke; sogar ein öffentlicher Brunnen mit fließendem Wasser und eine Toilette entdecke ich – offenbar hat die Gemeinde hier an Pilger gedacht . Zwei Wanderer kauen gerade in diesem Unterstand an ihren Broten, grüßen mich und deuten auf den Automaten: “Das beste kalte Cola weit und breit!” lacht der eine. Ich lächle und schiebe ein paar Münzen ein, um mir ebenfalls eine eisgekühlte Cola herauszulassen. Im Schutz des Dachs genieße ich das prickelnd-süße Getränk – eine Wohltat, während draußen kurz ein Regenschauer niedergeht, der wie ein Trommelwirbel auf das Wellblechdach prasselt. Das Wetter kann sich hier schlagartig ändern: Gerade noch Sonnenschein, dann plötzlich Gussregen, der jedoch nach fünf Minuten auch schon wieder abzieht und blauen Himmel zurücklässt. Frixe selbst scheint im Dornröschenschlaf zu liegen; niemand ist auf der Straße zu sehen.
Ich überlege kurz, ob ich einen Abstecher zur örtlichen Bar machen soll. Laut einem Aushang gibt es hier tatsächlich ein Gasthaus namens “O Alemán”, allerdings einige hundert Meter abseits der markierten Route, in einem Weiler namens Castro de Frixe. Ein Pfeil zeigt nach rechts die Hauptstraße hinauf. Doch da ich gerade versorgt bin und noch gut vorankommen will, entscheide ich mich dagegen – der Umweg würde Zeit kosten. Für hungrige Pilger sei erwähnt, dass man diese Bar mit kleinem Lebensmittelladen in Kauf nehmen kann, wenn man Frixe erreicht; sie liegt nur ein paar Minuten neben dem Camino . Außerdem gibt es in Frixe ein Landhotel namens Casa Ceferinos, das allerdings etwas außerhalb liegt – wer lieber hier nächtigen will statt in Lires oder Muxía, kann das tun . Doch ich ziehe weiter.
Hinter Frixe ändert sich die Landschaft: Der Weg wird wieder ein Forstweg und führt in ein hügeliges Heidegebiet. Ich wandere an knorrigen Kiefern vorbei, die inmitten von Farnteppichen stehen, und immer höher hinauf. Der Regen hat die Luft abgekühlt, und beim Aufstieg spüre ich, wie meine Beinmuskeln arbeiten – Schritt für Schritt, ruhig atmen. Die Einsamkeit hier oben ist fast vollkommen. Ich höre nur meine eigenen Schritte und meinen Atem, sonst nichts. Diese Stille und Monotonie laden zum Nachdenken ein. Während ich steige, ziehen Gedanken an den vergangenen Wochen auf dem Jakobsweg durch meinen Kopf. So vieles habe ich erlebt seit dem Start in Santiago: Begegnungen, Schmerzen, Glücksmomente. Der Weg ist nicht nur äußerlich mühsam, auch innerlich arbeitet er in mir. Jetzt, da Muxía und damit das wirkliche “Ende der Welt” näher kommen, merke ich eine Mischung aus Wehmut und Vorfreude in mir aufsteigen. Wehmut, dass diese Pilgerreise enden wird – Vorfreude, es geschafft zu haben und die Erfüllung am Ziel zu erleben. Ich atme tief die würzige Waldluft ein, lasse die Gefühle kommen und gehen, Schritt um Schritt. Pilgern ist manchmal wie Meditation: der Körper in Bewegung, der Geist wird ruhig. Fast automatisch finde ich einen Rhythmus – ein Schritt pro Atemzug –, der mich gleichmäßig den Hang hinaufführt.
Nach rund 2,5 Kilometern gleichmäßigen Anstiegs durchquert der Camino den Weiler Guisamonde. Weiler ist fast schon übertrieben: Ein halbes Dutzend Häuser, ein bellender Hund an der Kette und weit und breit keine Menschenseele. Guisamonde ist einer jener Orte ohne jede Infrastruktur, durch die der Weg nur hindurchhuscht . In ein paar Minuten habe ich die Ansammlung auch schon hinter mir gelassen, weiter aufwärts ziehend. Nun wird der Weg steiler. Ich biege von einem Schotterpfad auf eine schmale Asphaltstraße ein, die schnurgerade den Hang hinaufführt. Dieser Abschnitt verlangt mir einiges ab – nach den sanften Anstiegen kommt jetzt ein richtiger Anstieg, und zwar auf hartem Untergrund. Meine Füße pochen leicht in den Schuhen, die Kilometer in den Beinen machen sich bemerkbar. Ich lege einen langsameren Gang ein. Der Himmel hat sich wieder bezogen; graue Wolken ziehen auf und tauchen die Hochebene in diffuses Licht. Meine Gedanken verstummen, stattdessen wird mir jeder Atemzug bewusst. Hier auf der Anhöhe pfeift plötzlich ein kräftiger Wind durch die Eukalyptusstämme und bringt sie zum Ächzen. Kleine Regentropfen beginnen erneut, vom Himmel zu fallen und prickeln auf meiner verschwitzten Haut. “Nur noch ein Stück, gleich oben,” rede ich mir gut zu.
Bald tauchen die ersten Gebäude von Morquintián auf, dem nächsten Dorf, das etwa auf 19 Kilometern Strecke liegt. Ich weiß: Hier oben irgendwo liegt der höchste Punkt des Tages, der Monte Facho de Lourido mit etwa 270 Metern Höhe , aber noch bin ich nicht ganz dort. Morquintián selbst schmiegt sich an den Hang – ich erkenne einige graue Häuser und einen auffällig großen steinernen Hórreo, der wie ein Wächter am Dorfeingang steht . Als ich zwischen die Häuser trete, begrüßt mich eine fast schon klassische galicische Szenerie: Gleich neben dem Weg steht ein reich verziertes Steinkreuz, ein Cruceiro, neben dem frisches Quellwasser aus einem steinernen Brunnen fließt . Dankbar lege ich meinen Rucksack ab, tauche meine Hände in das kalte Wasser und befeuchte Stirn und Nacken. Der leichte Nieselregen hat aufgehört, doch dunkle Wolken hängen noch über mir – die Stimmung hier wirkt urtümlich und mystisch. Das Kreuz von Morquintián markiert wohl seit Jahrhunderten einen bedeutungsvollen Punkt; vielleicht haben Pilger hier früher innegehalten für ein Gebet. Ich tue es ihnen gleich und genieße einen Moment der Konzentration, während nur das Plätschern des Brunnens und das Pfeifen des Windes zu hören sind.
Noch während ich den Rucksack wieder schultere, fällt mein Blick auf ein handbeschriebenes Schild am Wegrand, direkt unter dem Cruceiro: “Bar O Camiño Marisol – 200 m” steht dort mit einem Pfeil nach vorne. Tatsächlich erkenne ich ein Stück weiter ein Haus mit einer kleinen Terrasse und bunten Wimpeln davor – sieht aus wie eine improvisierte Bar in einem ehemaligen Bauernhof. Meine Augen leuchten: Eine offene Bar hier oben, das kommt mir gerade recht! Ich folge dem Pfeil und keine zwei Minuten später stehe ich vor der Bar “O Camiño”, die von der fröhlichen Marisol betrieben wird. Sie winkt mich bereits herein, als ich zögere. Die Bar besteht im Grunde aus ihrer umgebauten Garage: ein paar einfache Holztische, Stühle mit bunten Kissen, an der Wand einige Wegweiser und Fotos. Zwei weitere Pilger sitzen bereits da und schlürfen heiß dampfenden Kaffee. „¡Hola, peregrino! Bienvenido, komm herein aus dem Wind!“, ruft Marisol. Überwältigt von ihrer herzlichen Art trete ich ein. Drinnen ist es gemütlich und sauber – an einer Ecke hängt sogar ein Mehrfachstecker, wo ich mein Handy laden darf, “claro, kein Problem”, lacht sie . Ich bestelle einen Café con Leche und ein Stück Tarta de Santiago (Mandelkuchen). Während sie alles zubereitet, trage ich mich ins Gästebuch ein und stempele meinen Pilgerpass mit ihrem Bar-Stempel, der auf dem Tresen liegt – Souvenirs dieser letzten Etappe.
Marisol erzählt, dass sie die Bar erst vor Kurzem eröffnet hat, um Pilgern eine kleine Stärkung zu bieten. In der Tat wirkt die Existenz dieser Bar wie ein Segen: Ein richtiger “Willkommensort” hier oben, wo es sonst nichts gibt, und das Angebot ist perfekt abgestimmt auf unsere Bedürfnisse . Es gibt heißen Tee und Kaffee, kalte Getränke, sogar Bier, und ein paar Snacks wie Donuts und hausgemachten Kuchen . Während ich an meinem süßen Kuchen kaue, schaue ich durch das offene Tor nach draußen: Der Himmel klart gerade wieder etwas auf, Sonnenstrahlen brechen durch und beleuchten die nassen Wiesen. Marisol plaudert mit uns Gästen, fragt nach dem Woher und Wohin. Ihre liebevolle Art lässt mich fast vergessen, dass ich noch ein gutes Stück des Weges vor mir habe. Schließlich bezahle ich – die Preise sind moderat, eigentlich ist es wie überall auf dem Camino eher eine Donativo-Geste – und schultere wieder den Rucksack. Ich bedanke mich überschwänglich bei der Gastgeberin: “Muchísimas gracias, Marisol. Su bar es un oasis perfecto – ein perfekter Ort zum Verschnaufen.” Sie winkt lachend ab: “Buen camino y que Dios te bendiga!” – Gott segne dich auf deinem Weg. Mit neuem Schwung trete ich hinaus. Tatsächlich, diese kleine Pause war Gold wert; ich fühle mich erfrischt und gestärkt für den finalen Anstieg.
Kaum lasse ich Morquintián hinter mir, zieht der Pfad noch einmal ordentlich an. Es sind nur noch etwa 2 Kilometer bis zum höchsten Punkt, aber nun geht es richtig bergauf. Zunächst folge ich weiter der kleinen Straße, die sich aus dem Ort hinauswindet. Der Wind frischt wieder auf und trägt nun ein tiefes Rauschen heran – zunächst halte ich es für das Meer, doch als ich ums Eck biege, sehe ich die Quelle: Windräder, gigantische weiße Windkraftanlagen auf dem Höhenrücken vor mir, drehen sich knarzend in der steifen Brise . Sie markieren die Kammlage des Monte Facho de Lourido, meiner nächsten Etappe. “Immer den Windrädern entgegen,” murmle ich schmunzelnd – tatsächlich scheinen in Galicien fast alle größeren Erhebungen von diesen surrenden Riesen bevölkert zu sein. Ich verlasse den Asphalt ein letztes Mal, als der Camino an einer Kurve rechts auf einen steinigen Waldweg abzweigt . Jetzt wird es ernst: Ein schottriger Pfad führt schnurgerade in Richtung der Windräder steil nach oben. Die Vegetation ist hier karg; niedrige Büsche und Heidekraut dominieren. Der Wind pfeift ungehindert und treibt mir kleine Regentropfen – oder ist es sogar feiner Hagel? – ins Gesicht . Ich ziehe meinen Poncho über, denn der Himmel hat sich bedrohlich verdunkelt. Die letzten Meter verlangen mir alles ab: Der Pfad führt direkt unter einer Reihe von hochspannungsführenden Strommasten entlang, ich sehe nur noch die grauen Schottersteine vor mir und setze einen Fuß vor den anderen . Mein Herz pocht laut in meiner Brust, meine Oberschenkel brennen. “Gleich bist du oben, gleich geschafft,” rede ich mir Mut zu. Endlich, mit einem letzten kraftvollen Schritt, erreiche ich den Scheitelpunkt – den Facho de Lourido.
Ich bleibe stehen. Ringsum fegt der Wind über die kahlen Hänge, lässt die Windräder rauschen und zerzaust meinen Poncho. Doch genau in diesem Moment reißt die Wolkendecke ein Stück weit auf: Ein gleißender Sonnenstrahl bricht hervor und taucht die Szenerie in dramatisches Licht. Ich stehe auf ca. 270 m Höhe, dem höchsten Punkt des Weges , und schaue erstaunt um mich. Unter mir erstreckt sich nach Norden und Osten hin sanft hügeliges Land, im Westen erkenne ich zwischen dunklen Wolkenbändern das tiefe Blau des Atlantiks. Das Gehen hat aufgehört – Stille in Bewegung und doch ein Sturm im Außen. Ich spüre einen überwältigenden Moment von Freiheit und Erleichterung. Der schwierigste Teil ist geschafft. Eine Flut von Emotionen steigt in mir auf: Stolz, Demut, Dankbarkeit. Ich denke an alle, die mich auf diesem Weg im Geiste begleitet haben. Hier oben, allein mit dem Wind und dem Himmel, fühle ich mich ihnen nah. Für einen Moment schließe ich die Augen und lasse den Regen mein Gesicht benetzen – es fühlt sich an wie eine Taufe am Ende dieser Pilgerschaft, eine Reinigung vor dem Ziel.
Ankunft in Muxía
Der weitere Weg ist nun eindeutig: Vom Gipfel aus führt der Camino nach rechts und verlässt die Linie der Windräder . Ich biege also ab und beginne den Abstieg. Anfangs geht es noch gemächlich über breite Schotterpisten bergab, doch bald wird der Weg steiler. Die Strecke windet sich in Serpentinen den Hang hinunter, an manchen Stellen sind Bauarbeiter gerade dabei, den Weg mit Fräsen zu glätten – es scheint, man verbessert die Route für künftige Pilger . Ich muss vorsichtig sein: Der Regen hat die Erde glitschig gemacht, und Geröll liegt auf dem Pfad. Schritt für Schritt taste ich mich abwärts, dankbar für meinen Wanderstock, der mir Stabilität gibt. Bald verlasse ich den offenen Hang und tauche wieder in einen lichten Wald ein. Hier zweigt der Camino scharf nach rechts ab, dann gleich wieder links, nun auf einen grasigen Traktorweg zwischen duftenden Eukalyptusbäumen . Meine Knie protestieren ein wenig beim stetigen Bergab, doch die Vorfreude auf das Ziel trägt mich weiter.
Nach etwa 2 Kilometern Abstieg erreiche ich die Häuser von Xurarantes . Ein schlichtes Schild heißt mich “Benvido a Xurarantes” willkommen . Das „Dorf“ besteht nur aus wenigen Höfen. Hühner laufen gackernd über den Weg, als ich durch die Mitte der Ansiedlung gehe. Ein alter Mann lehnt an seiner Haustür und beobachtet mich neugierig. Ich grüße freundlich; er nickt wortlos zurück. In der Ortsmitte steht ein weiterer steinerner Wegweiser: Muxía 3 km, lese ich darauf – jetzt ist es wirklich nicht mehr weit . Die Wegmarke gibt mir einen Energieschub. Hinter Xurarantes führt die Straße steil weiter talwärts. Ich folge ihr für einige hundert Meter, als mir eine kleine Quelle am Weg auffällt. Links des Pfades, unter einer großen Eiche, fließt Wasser aus einem bemoosten Rohr – vermutlich der zweite der zwei Brunnen, von denen andere Pilger berichtet hatten, die man zwischen Lires und Muxía findet . Ich nutze die Gelegenheit und nehme einen kräftigen Schluck. Das kalte Wasser rinnt meine Kehle hinunter und löscht den Durst, der sich nach all der Anstrengung bemerkbar macht.
Weiter unten stoße ich auf eine Querstraße – die DP-5201, eine Landstraße, die direkt nach Muxía führt . Hier biege ich rechts ab. Der Kontrast könnte größer kaum sein: Nach Stunden auf Wald- und Schotterpfaden schreite ich nun auf Asphalt mit Mittelstreifen dahin. Zum Glück gibt es einen Seitenstreifen, und die wenigen Autos, die vorbeikommen, weichen respektvoll aus. Vor mir, am Fuße des Hügels, beschreibt die Straße eine scharfe Linkskurve und führt über einen kleinen Kreisverkehr – der erste Kreisverkehr seit langem, ein Zeichen der nahenden Zivilisation. Und dann, ganz plötzlich, umfängt mich ein neuer Geruch: salzige Meeresluft mischt sich mit einem Hauch Tang – ich habe wieder die Küste erreicht. Rechterhand öffnet sich der Blick auf einen breiten, hellen Strand: die Playa de Lourido . Die geschützte Bucht liegt ruhig da; kleine Wellen plätschern ans Ufer, das von Pinien gesäumt wird. Heute ist kein Badewetter – noch immer fallen einzelne Regentropfen – und so ist der Strand leer. Ich genieße kurz die friedliche Szenerie, doch die Anziehungskraft des Ziels ist stärker, also gehe ich zügig weiter.
Die Straße folgt nun der Küstenlinie, schwenkt Richtung Norden und wird zur Uferstraße von Muxía . Neben mir taucht ein Fußballplatz auf, dessen Rasen im Regen saftig grün leuchtet. Ein paar Jungs in Trainingskluft laufen gerade lachend über das Feld – welch ein alltägliches Bild, fast bizarr nach der Einsamkeit der letzten Stunden. Hinter dem Sportplatz sehe ich erstmals die Silhouette von Muxía: Die Häuser ziehen sich an einem Hügel entlang, vor ihnen ragt ein kleiner Hafenpier in die Bucht. Am Ortseingang begrüßt mich eine letzte Wegmarke mit der Aufschrift “Muxía – 1 km” . Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht, und trotz meiner Müdigkeit beschleunige ich meine Schritte. Der Regen hat nun ganz aufgehört, stattdessen kämpft sich die Sonne wieder hervor und taucht die Küste in ein mildes Nachmittagslicht. Links von mir peitschen die Wellen gegen schwarze Felsen – ein wilder, wunderschöner Anblick, der ahnen lässt, warum man diese Gegend seit jeher die Costa da Morte nennt . Gleichzeitig fühle ich mich unbändig lebendig und frei, als ich den letzten Kilometern entgegenmarschiere.
Der Santuario da Virxe da Barca auf den Klippen von Muxía – ein spiritueller Ankerpunkt am sturmumtosten Atlantik. Schließlich erreiche ich die ersten Häuser von Muxía. Enge Gassen zweigen vom Küstenboulevard ab, der an der Hafenpromenade entlangführt. Fischerboote schaukeln im kleinen Hafenbecken, und Möwen kreischen über den Kais. Ich gehe jedoch weiter, direkt auf der Hauptstraße entlang der Westküste der Halbinsel, denn mein Ziel liegt ganz am Ende der Landzunge. Und da erblicke ich es bereits in der Ferne: Zwei markante Türme ragen vor dem Hintergrund der schäumenden See in den Himmel – der Santuario da Virxe da Barca, die Heiligtumskirche unserer Lieben Frau vom Boot . Mein Herz hüpft vor Freude und Ergriffenheit. Die Wallfahrtskirche duckt sich auf einem Felsplateau direkt am Atlantik, wo die Wellen mit voller Wucht gegen die Klippen schlagen. Dieser Ort strahlt eine kraftvolle Magie aus: Hier mischen sich uralte Legenden und christliche Tradition zu einer Atmosphäre, die jeden Pilger in den Bann zieht. Der Sage nach erschien der Jungfrau Maria dem heiligen Jakobus hier in Muxía in einem steinernen Boot, um ihn zu ermutigen . Als Beweis blieben Teile dieses steinernen Bootes in Form von Felsformationen zurück – die sogenannten Pedras: etwa die Pedra dos Cadrís, ein segelförmiger Fels, unter dem man hindurchkriecht in der Hoffnung auf Heilung von Rückenschmerzen und Unfruchtbarkeit, oder die berühmte Pedra de Abalar, der Schaukelstein, der sich früher leicht bewegte und Unheil vorhersagen sollte . Diese Steine liegen unmittelbar neben dem Heiligtum und verleihen dem Platz eine mystische Aura.
Als ich mich der Kirche nähere, spüre ich den Wind am Kap stärker wehen. Er zerrt an meiner Kleidung und trägt die Gischt der Brecher bis zu mir herauf. Der Santuario wurde im 18. Jahrhundert errichtet, anstelle einer älteren Kapelle, und trotzt seither den Elementen an diesem exponierten Platz . (Vor einigen Jahren hat ein Blitz die Kirche am Weihnachtstag getroffen und ein Feuer entfacht, doch mittlerweile ist sie liebevoll restauriert, als sei nichts geschehen.) Jetzt am späten Nachmittag ist kaum jemand hier. Ich steige die letzten Felsstufen hinauf zum Vorplatz des Heiligtums. Dann setze ich mich erschöpft, aber überglücklich auf einen großen, vom Wind glattgeschliffenen Granitblock direkt neben der Kirche. Vor mir tobt das Meer. Das Donnern der Brandung und das Schreien der Möwen erfüllen die Luft, während die Sonne zwischen den Wolken hervorblitzt und ein Stück Regenbogen über dem Horizont erscheint. In diesem Moment fühle ich einen tiefen inneren Frieden – eine stille Ankunft nach all den Kilometern. Viele Pilger sagen, dieser Ort schenke ihnen noch mehr Ruhe als Finisterre , und jetzt verstehe ich warum. Es ist ein Ende und ein Anfang zugleich, ein Ort zum Loslassen und Kraftschöpfen.
Tränen der Freude steigen in meine Augen. Ich denke an die Worte, die ich irgendwo gelesen habe: “Muxía ist eigentlich der westlichste Punkt des spanischen Festlands, also das wahre Ende der Welt – aber wen kümmern schon solche Details?” . Für mich fühlt es sich tatsächlich an, als sei ich am wirklichen Ende der Welt angekommen. Und doch spüre ich, dass der Weg in mir weitergehen wird, auch wenn die physische Wanderung hier ihr Ziel findet. Ich lege den Kopf in den Nacken und lasse den Wind über mein Gesicht streichen, schließe die Augen. In meinem Innern danke ich für die sichere Reise, für all die Erlebnisse, Herausforderungen und Wunder, die mir der Jakobsweg bis hierher geschenkt hat.
Nach einiger Zeit rappele ich mich auf und gehe die wenigen Schritte zur Kirchenpforte. Sie ist – zu meiner Freude – geöffnet. Ich trete ein in den heiligen Raum, der nach Weihrauch und Kerzen duftet. Kein Mensch ist zu sehen. Im diffusen Licht der Abendsonne, die durch ein kleines Fenster fällt, knie ich mich in eine der Bänke. Vorne im Altarraum thront die Figur der Virgen de la Barca, kunstvoll geschnitzt, mit einem kleinen Boot zu ihren Füßen. Ich schließe die Augen und verweile in stillem Gebet oder einfach nur in Dankbarkeit. Das Rauschen des Meeres ist selbst hier drinnen leise wahrnehmbar und klingt wie eine himmlische Orgel.
Schließlich verlasse ich die Kirche und mache mich auf in den Ort, um eine Bleibe für die Nacht zu finden. Muxía bietet zum Glück zahlreiche Unterkünfte für Pilger. Ich entscheide mich für die Albergue Muxía Mare, die an der westlichen Uferstraße liegt, unweit vom Ortskern . Freundlich werde ich von den Hospitaleras empfangen – zwei Schwestern, die das Haus mit viel Herzlichkeit führen. Die Herberge ist klein und gemütlich, fast familiär, genau das Richtige nach diesem langen Wandertag . Ich bekomme ein Bett mit Privatsphäre-Vorhang im Schlafsaal, heiße Dusche inklusive. Alternativ hätte ich auch im modernen Albergue Bela Muxía unterkommen können, am nördlichen Ende des Orts näher zur Kirche, die ebenfalls einen exzellenten Ruf hat . Doch ich bin glücklich mit meiner Wahl: Vom Fenster der Muxía Mare schaue ich direkt hinaus auf die schroffe Küste. Während ich meine müden Füße hochlege, sehe ich draußen die letzten Sonnenstrahlen über den Wellen tanzen . Die Costa da Morte präsentiert sich jetzt, da der Sturm sich gelegt hat, von ihrer sanften Seite.
Später am Abend gönne ich mir in einer kleinen Hafen-Taverne ein deftiges Abendessen: frischen Fisch, der am Morgen noch im Atlantik schwamm, dazu knusprige Patatas und einen Schluck kühlen Ribeiro-Wein. Die Bar ist erfüllt vom Murmeln der Einheimischen, die den Tag ausklingen lassen. Ich sitze mit meinem Pilgermenü etwas abseits, betrachte meine Compostela-Urkunde und überlege, mir morgen im Rathaus die Muxiana abzuholen – die offizielle Pilgerurkunde von Muxía . Doch das hat Zeit bis morgen. Jetzt ist erstmal Feiern angesagt: im Stillen, in mir drin.
Spät am Abend spaziere ich noch einmal zurück zur Punta da Barca, zum Santuario. Die Dunkelheit ist hereingebrochen, der Leuchtturm von Cabo Villano gegenüber sendet sein Blinklicht über die Bucht. Die Sterne glitzern zwischen zerfetzten Wolken. Die Wellen sind weiterhin unermüdlich, aber ihre Gischt erscheint nun milchig im Mondlicht. Ich setze mich auf die kalten Felsen und höre der Melodie des Meeres zu. Ein Gefühl tiefster Zufriedenheit breitet sich in mir aus. Ich bin angekommen – wirklich angekommen. Hier am Ende der Welt fühle ich mich der Welt näher denn je. Mit diesem Gedanken beschließe ich meinen Tag. Ich kehre zur Herberge zurück, wo ich bald in einen tiefen Schlaf falle, begleitet vom fernen Rauschen des Atlantiks und dem Wissen, dass dieser Weg mich für immer verändert hat.
Buen Camino – und gute Nacht.
Dieser Artikel wurde erzeugt, indem ein GPX-Trail von GPT O3 analysiert wurde. Anschließend hat GPT eine „Deep Research“ im Web durchgeführt und die Erlebnisse vieler Pilger zu diesem Bericht kompiliert. Ich selbst war so wenig in Spanien, wie Karl May in Amerika.