Bei den Friedensbewegten aus Tamera war es Konsens. Man machte sich Gedanken über den Nahostkonflikt. Wir sprachen darüber und wir sprachen darüber, wie wir darüber sprachen. Es war anstrengend, hinterließ ein Gefühl von Ohnmacht und dann schließlich Abstumpfung, Depression, emotionalen Rückzugs. Vor Ereignissen, die weit weg sind, kann man nicht fliehen, man kann nicht kämpfen. Wie überhaupt? Alle sympathisch/vegetativ verdrahteten Reaktionen fallen aus. Es bleibt: Totstellen. Freeze, wie die Psychologen sagen. Es ist im Grunde einen Schritt vor der schizoiden Dissoziation. „Damit habe ich nichts zu tun. Das hat jemand anderes erlebt.“ Die Erinnerung zerfällt bei thraumatisierenden Ereignissen in ein gutes Leben und eine Art „Bad Bank“. die Persönlichkeit, die mit dieser „Bad Bank“ umgeht, ist irgendwie dazu in der Lage. Sie wird fähig, wo der eigentliche Charakter überfordert ist. Die „moralische Verletzung“ besteht jetzt darin, dass man gerne helfen würde, aber nicht kann. Folglich aufhört sich zuzuwenden und schließlich Post Hoc eine Begründung findet, warum das Okay ist. Gollum und Sméagol veranschaulichen diese Dynamik sehr graphisch.
So ähnlich, zweigeteilt und irgendwie unvollständig zusammengesetzt fühlte ich mich, als ich wieder zu Hause begann, dem News Feed zu folgen. Ich muss dazu sagen, dass ich die Nachrichten normalerweise aus einem bestimmten Zweck verfolge. Ich treffe Entscheidungen als Kleinanleger. Gleich dazu sagen sollte ich, dass News Trading keine gute Idee ist. All zu oft, ist die News zu alt, die Information unvollständig oder schlicht nicht die ganze, relevante Wahrheit, um einen gelingenden Trade zu machen.
Deshalb hatte ich, als ich hörte, die USA ziehen ihre Diplomaten aus dem nahen Osten so weit wie möglich ab, eine Trading Idee. Öl. Wenn Israel den Iran angreift und darauf hin die Straße von Hormus blockiert wird, bedeutet dass der Ölpreis explodiert. Da alle Lieferketten von Öl abhängen bricht die Weltwirtschaft ganz wesentlich ein. 20% des täglichen Ölbedarfs gehen durch diese Meerenge. Alle Produkte werden teurer, die Zinsen steigen, Kredite werden teurer, die Wirtschaft lahmt. Bisher ist es zu einer Blockade dieser Meerenge nicht gekommen. Schon jetzt ist aber der Marktpreis für Öl um 10% gestiegen. Mit einem gehebelten ETF hätte ich 50% auf mein Kapital in 24 Stunden erwirtschaften können. Hinterher weiss man immer mehr.
24 Stunden später ziehen Leuchtspurgeschosse über den Himmel über Teheran. 24 Stunden später, sind ungefähr 80 Menschen tot und viele weitere verletzt. Die Menschen in Israel verstecken sich in Schutzräumen und unter dem „Iron Dome“. Ob sie Angst haben? Ob jemand auf der anderen Seite der Welt am Heizöl spart? Ist irgendwo ein Notstromgenerator eines sowieso schon am Limit arbeitenden Krankenhauses aufgrund der Ölpreise nicht mehr befüllbar?
Ich habe keinen Öltrade gemacht.Begründung? Ich wünschte ich könnte sagen: „Siehe oben.“ Es wäre aber nur die Hälfte der Wahrheit. Es stimmt, dass ich moralische Bedenken hatte. Daneben ist aber eben news-Trading eine aus weiter oben dargestellten Gründen unsichere Sache. Es war auch etwas Vorsicht oder Mutlosigkeit dabei.
Ich hätte das Geld gut gebrauchen können. Vor einigen Tagen hatten mein Bruder und ich versucht, viele Termine in zu wenig Zeit zu quetschen. Ergebnis war ein Fehler beim Ausparken mit entsprechendem Blechschaden. Aus für den Gedankengang uninteressanten Gründen, geht es meinem Bruder gerade nicht sehr gut. Entsprechend frustriert war er. Wie schön wäre es da, wenn ich sagen könnte: „Ach, Bruder. Nicht so wild. Im nahen Osten sterben Menschen. Dein Blechschaden ist quasi bezahlt.“ Und damit wären wir wieder bei den tragischen Figuren von Sméagol und Gollum. Aber gibt es angesichts des unvorstellbaren Leids in den diversen Kriegsgebieten eine Möglichkeit nicht politisch schizophren zu reagieren?
Ich suche Rat in der Stoa. Als die griechische Kultur um Christi Geburt im Helinismus unterging, entstanden eine Menge Chaos, Verwirrung und Leid. In den Markthallen dieser Zeit, wo die News der römisch/ägyptischen Auseinandersetzungen einliefen, wo man vom Aufstieg und Fall Karthagos hörte, fragten Sklaven und Kaiser gleichermaßen, wie man mit den persönlichen Schicksalschlägen und politischen Umwälzungen umgehen könnte.
Epiktet lebte als Sklave in Ketten und fand doch Freiheit in der Art und Weise, wie er mit seinem Leben umging. Nicht das „was“ geschah, sondern das „wie“ er darauf reagierte war für ihn wichtig. Es war nämlich das, was er beeinflussen konnte,. Marcus Aurelius war fast zur selben Zeit der mächtigste Mann der Welt. Er war nicht amerikanischer Präsident, sondern römischer Kaiser und musste doch Pest und sogar den Verlust seiner eigenen Kinder ertragen,. Er benutzte das Bewusstsein über das Leid anderer, um das eigene Empfinden von Unglück zu relativieren.
In heutigen Zeiten sprechen Autoren wie Steven Covey „Seven habits of highly effective people“ und Jordan Petersen „Twelve rules four life“ zu mir. Covey unterscheidet den „Kreis unseres Einflusses“ vom „Kreis unseres Interesses“ und behauptet, es schwäche uns, wenn wir uns um Dinge sorgten, die wir nicht ändern könnten. Petersen rät, „Steh gerade und übernimm Verantwortung, (Rule 1), räume Dein Haus auf, bevor Du die Welt kritisierst (Rule 6) und wichtig „Streichle eine Katze, wenn Du einer auf der Straße begegnest.“ (Rule 12).
Was sagt uns das über Friedensgebete, Ölspekulationen und Blechschäden? Unsere Probleme sind klein und nichtig. Und es sind doch die Probleme, die wir lösen können und müssen. Ich halte Friedensgebete für selbst verabreichtes Opium, um dem Schmerz etwas entgegen zu setzen. Sie nützen niemandem, außer vielleicht Dir selbst. Friedensmärsche wie der Global March to Gaza“ sind von vorn herein zum Scheitern verurteilt. Noch bevor die Aktivisten ihr Ziel erreicht haben, wurden sie schon verhaftet und deportiert. Selbst Greta Thunberg wurde verhaftet und ausgewiesen. Und während wir noch mit Gaza beschäftigt sind, weitet die Netanjahuregierung in der Operation „Rising Lion“ den Krieg auf den Iran aus. Die israelische Regierung „will den Krieg noch totaler als total“. Sie sucht die „Endlösung“, verdrängend, dass es keine 100%ige Sicherheit geben kann. Ich benutze diese Formulierungen bewusst und im Wissen um ihre Herkunft. Ähnlich wie Tamera den Muehlschatten, schleppt der Staat Israel einen Schatten mit sich herum. Es ist ein Schatten, der zu dunkel ist, um je integriert werden zu können und deshalb wird es wohlmöglich nie Frieden geben. Wer weitere Beweise sucht, der lese schlicht die Berliner Morgenpost 13.06.2025:
Netanjahu hat vor der Operation „Rising Lion“ einen Zettel in die Klagemauer gesteckt. Die Morgenpost schreibt:
„Siehe, das Volk wird sich erheben wie ein großer Löwe“, soll dort in Hebräisch geschrieben stehen. Der Satz stammt aus dem Buch Numeri, Kapitel 23, Nummer 24 – und diente wohl der Inspiration für den Namen der Militäroperation. Vollständig heißt es im 4. Buch Mose: „Ein Volk wie ein Löwe, der aufsteht, / wie ein Raubtier, das sich erhebt. / Es legt sich nicht hin, / bevor es die Beute gefressen / und das Blut der Erschlagenen getrunken hat.“
Wen die psychohistorische Betrachtung nicht überzeugt, der kann sich John Mearrsheimer zuwenden. Der politische Realismus behauptet schlicht, dass die UN und andere internationale Organisationen nur so wirksam sind, wie sie Macht für sich behaupten können. Daneben seien Staaten eben Subjekte, die in den. Grenzen, die durch die Macht anderer Akteure gegeben sind, danach strebten ihre Macht auszudehnen. Kurz. Die Hamas, der Iran und seine diversen Proxy’s haben verloren, ebenso wie die Ukraine wahrscheinlich verloren hat. Wer „Tod oder Freiheit“ in der Auseinandersetzung mit einem überlegenen Gegner wählt, muss und wird sterben.
Was kann ich tun und was kann ich lassen?
Ich kann Spekulationen mit dringend benötigtem Treibstoff und Nahrungsmitteln lassen. Ich kann meinem Bruder finanziell helfen, obschon ich keinen Spekulationsgewinn vereinnahmen kann. Ich kann aufrecht stehen, mein Haus in Ordnung halten und versuchen sanft mit meinen Mitmenschen um zu gehen.
Was kann ich nicht? Ich kann weder Trump noch Netanjahu überzeugen. Ich kann das islamistische Regime im Iran nicht zum Frieden bewegen. Ich kann mich mit Epiktet und Marcus darum bemühen, ein gutes Leben in Dankbarkeit zu führen. Ich kann mein Herz offen halten und die Nachrichten lesen. Vielleicht gibt es tatsächlich Chancen diese Welt zum besseren zu verändern. Rohstoffspekulationen und Friedensmärsche gehören meiner Meinung nach gerade nicht dazu.