Der Dunkle Wald und der Ukraine-Konflikt: Science-Fiction, Realismus und harte Geopolitik

Von Jeronimo Schöber

1. Ein persönlicher Einstieg

Vor einiger Zeit habe ich Liu Cixins Roman The Dark Forest gelesen. Auf den ersten Blick eine kosmische Science-Fiction – aber je tiefer man darin eintaucht, desto deutlicher merkt man: Das ist keine Zukunftsmusik, sondern eine radikale Metapher für unser eigenes politisches Dilemma.

Ich ertappte mich beim Lesen oft dabei, wie ich Szenen aus der aktuellen Weltpolitik in die Romanhandlung „hineinlesen“ konnte. Und gerade der Ukraine-Konflikt zeigt, wie sehr Liu Cixins „Dunkler Wald“ und John Mearsheimers „Offensiver Realismus“ sich berühren.

2. Das Prinzip des Dunklen Waldes

Im Roman gilt eine grausame Logik:

  • Das Universum ist wie ein dunkler Wald.
  • Jede Zivilisation ist ein Jäger.
  • Niemand weiß, ob der andere friedlich oder feindlich ist.
  • Wer sich bemerkbar macht, riskiert sofortige Vernichtung.

Das führt zu zwei Typen von Figuren:

  • Luo Ji, der Antiheld, erkennt die Logik, bleibt kühl, misstrauisch – und rettet die Menschheit.
  • Cheng Xin, empathisch und moralisch, scheitert später, weil sie im entscheidenden Moment zögert.

Das Dilemma: Mitgefühl ist menschlich – aber im Dunklen Wald tödlich.

3. Staatsrealismus: Von Machiavelli zu Mearsheimer

In der Politikwissenschaft heißt das Realismus:

  • Machiavelli: Politik heißt Macht, nicht Moral.
  • Hans Morgenthau: Staaten handeln nach Interessen, nicht nach Idealen.
  • Kenneth Waltz: Anarchie zwingt Staaten zu Misstrauen.
  • John Mearsheimer: In einem anarchischen System müssen Staaten nach Hegemonie streben, sonst gehen sie unter. Vertrauen ist Illusion.

Liu Cixin überträgt diese Schule der Denker ins Universum. Mearsheimers Offensiver Realismus und Liu Cixins Dark Forest Hypothesis sind fast deckungsgleich.

4. Ukraine 2014: Der Präventivschlag im dunklen Wald

NATO-Osterweiterung

Aus westlicher Sicht: Schutzschirm für neue Demokratien. Aus russischer Sicht: Einkreisung, existentielle Bedrohung.

Putins Reaktion

Die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass lassen sich realistisch deuten: nicht primär als „imperialer Wahnsinn“, sondern als Präventivschlag. Wer im dunklen Wald sieht, dass der andere eine Waffe hebt, wartet nicht – er schießt zuerst.

Gysi im Bundestag

„Wenn Sie die Ukraine zwischen Ost und West zerren, wird das Land zerreißen, Frau Bundeskanzlerin.“

Ein Satz, der die Logik des Sicherheitsdilemmas perfekt zusammenfasst.

Nuland und „Fuck the EU“

„Fuck the EU.“

Das klingt vulgär, meint aber nüchtern: Europas Zaudern ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass Washington die Ukraine nach eigenen Interessen ausrichtet. Ein Satz wie aus dem Lehrbuch des Realismus – kalt, direkt, machtbewusst.

5. Wer ist wer im Dunklen Wald?

  • USA = Luo Ji: kalkulierend, bereit zur Abschreckung, hegemonial denkend.
  • Russland = der Jäger: misstrauisch, präventiv, sofort schießbereit.
  • EU = Cheng Xin: mitfühlend, zögernd, an Werten orientiert, aber schwach in der Machtpolitik.

Die EU will Schwerthalterin sein – doch wie Cheng Xin fehlt ihr die Härte, die Glaubwürdigkeit.

6. Fazit: Die tragische Frage

Liu Cixin konfrontiert uns mit einer brutalen Diagnose: Im anarchischen System – ob im All oder in der internationalen Politik – überleben nicht die Empathischen, sondern die Kalten.

Das wirft die Frage auf, die mich seit der Lektüre nicht loslässt:

Wollen wir Luo Ji sein und überleben – um den Preis der Unmenschlichkeit? Oder Cheng Xin – menschlich bleiben, aber vielleicht ausgelöscht werden?

Die Ukraine ist der Schauplatz, auf dem dieses Dilemma gerade in aller Härte verhandelt wird.

7. Literatur und Quellen

  • Liu Cixin: The Dark Forest (2008), dt. Der dunkle Wald
  • John J. Mearsheimer: The Tragedy of Great Power Politics (2001)
  • Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 18/20 (13. März 2014), Rede Gregor Gysi
  • Leak: Victoria Nuland / Geoffrey Pyatt, Telefongespräch Januar 2014