Jede Reise, heisst es, begänne mit dem ersten Schritt.
Wie falsch das ist, habe ich auf meinem Camino herausgefunden, ohne überhaupt richtig losgegangen zu sein.
Ich stehe noch in meiner Küche und bereite mich auf den Camino vor, und schon habe ich mich selbst besiegt – und zwar auf die denkbar groteskeste Weise. Nicht etwa ein mythischer Drache stellte sich mir entgegen, sondern ein Paar schäbige Bürohalbschuhe. Vierzig Kilometer weit bin ich darin marschiert, nicht etwa als heldenhafter Asket wie Jesus in Sandalen oder der Buddha barfuß durch den Dschungel, nein – einfach nur aus Übermut, Trotz und einer gehörigen Portion Arroganz und Selbstüberschätzung. Das Ergebnis: eine Marschfraktur im Mittelfuß, MT3 und MT4 rechts, wenn wir präzise sein wollen.
Das Runner’s High, über das ich zuvor gelacht hatte wie über das Yeti-Sichten am Himalaya, erwischte mich voll und ganz. Trotz Schmerzen weiterzulaufen schien mir plötzlich nicht nur logisch, sondern sogar alternativlos. Uber? Ein Taxi? Das wäre doch Verrat gewesen! Also humpelte ich weiter, beseelt wie ein heiliger Krieger auf Mikrodosis-LSD, mit missionarischem Eifer und vollkommenem Realitätsverlust. Ich beging dabei fast schon Gewalt gegen mich selbst.
Im Rückblick, gemütlich humpelnd mit meiner orthopädischen Aircast-Schiene – dieser Panzerung, die mich schützt, aber zugleich isoliert – wird mir klar, dass das Pilgern tatsächlich nicht erst auf dem Weg beginnt, sondern bereits in meiner Küche, zwischen selbstgebrauter Elektrolytlösung und hausgemachter Lederpflege aus Bienenwachs, Lanolin und Olivenöl. Ein bisschen Carnauba-Wachs dazu, fertig war die alchemistische Schuhcreme. Vaseline? Erdölprodukte? Nie wieder! Sie sind eine Versiegelung für die Ewigkeit, ein Panzer, der jeden Austausch, jedes Altern und jeden Kreislauf unterbindet. Meine Schuhe sollen atmen, leben, biologisch abbaubar sein – nicht tot versiegelt wie ein Pharaonengrab.
Und plötzlich sehe ich das alles in einem größeren Zusammenhang: Wir Menschen suchen immer nach der billigen, dauerhaften Lösung – Paraffin, Plastik, Beton. Wir bauen Welten, die nichts mehr zurückgeben, Materialien, die nicht sterben dürfen, Systeme, die dem Zerfall nicht trauen. In unserer Angst vor Vergänglichkeit konstruieren wir Langlebigkeit ohne Rücksicht auf Kreisläufe. Doch was nicht stirbt, lebt auch nicht wirklich. Mit jedem Schritt, den ich tue – sei es im Hochgebirge oder durch die Fußgängerzone – bringe ich genau diese Entscheidung mit: Trage ich zum Kreislauf bei, oder unterbreche ich ihn? Bin ich Teil des Stoffwechsels oder dessen Blockade?
Was ich an den Füßen trage, ist mehr als Schuhwerk. Es ist eine Haltung. Die Wahl zwischen Panzerung und Verbindung. Zwischen Isolation und Austausch. Zwischen Überleben um jeden Preis und einem Leben im Dialog mit der Welt. In der Art, wie wir unsere Schuhe pflegen, unsere Wege gestalten und unsere Städte bauen, entscheidet sich, ob wir der Erde einen Weg zurück zeigen – oder ihr aus Dummheit und willentlicher Ignoranz nur einen weiteren Fußabdruck in die Fresse treten. 
Mein Camino beginnt also mit einer Lektion in Demut. Nicht die Strecke ist die erste Prüfung, sondern die Vorbereitung selbst – die Bereitschaft, mich selbst nicht zu überschätzen, meinen Körper zu respektieren und mit ihm in Beziehung zu treten. Vielleicht hätte Buddha heute auch Wanderschuhe getragen, denke ich schmunzelnd.
Jetzt bereite ich mich nicht nur körperlich, sondern vor allem mental vor. Ich trainiere Geduld und lerne zu unterscheiden zwischen guter Selbstüberwindung und falschem Stolz. Ich frage mich dabei immer wieder: Was trage ich buchstäblich mit jedem Schritt in die Welt? Eine Panzerung ohne Rücksicht auf Verluste oder Offenheit, Verletzlichkeit und echten Austausch? Ein atmender Schuh oder ein hermetisch versiegeltes Denkmal in Öl?
Gelernt habe ich die Bereitschaft, auch einmal einen nassen Fuß zu riskieren. Ich habe gelernt, mich selbst zu respektieren, statt mir meine eigenen Ziele gewaltsam aufzudrücken und ich habe gelernt, dass nichts für die Ewigkeit hält, weil es das einfach nicht sollte. Das ganze ist unteilbar, ewig in Fluss und Austausch. Fußschuh und Weg sind eins und beeinflussen einander. Wenn ich aufhöre, das wahrzunehmen, weil ich es gewaltsam durchziehen will oder diesen Kreislauf unterbreche, durch Vaseline und andere Erdölprodukte führt das zu nichts gutem.
Ich habe immer gedacht, was soll man eigentlich lernen, bloß weil man mal einen Monat durch das staubige Nordspanien läuft? Wenn ich sehe, was all das jetzt schon in mir auslöst, frage ich mich, ob ich so viel Erkenntnis überhaupt ertragen würde. 
Mein Pilgerschuh steht bereit, eingecremt mit dem selbstgebrauten, nach Lavendel duftenden Yak-Balsam. Die Reise, so spüre ich, wird mir noch einiges abverlangen. Vor allem aber eines: Nicht noch einmal dieselbe Dummheit zu begehen. Auf geht’s!